Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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Stimme klagen hört (V. 10–15), die zunächst different klingt (V. 14: fremede). Umstandslos fährt der Bericht fort, wie der geist zu einem jüngst verstorbenen Körper zurückkehre (V. 16–20). Erst mit der belauschten Klage erschließt sich diese Differenz, die gleichwohl rückbezogen bleibt: Der Alterität akustischer Wahrnehmungsbeschreibung treten Pronomina zur Seite, die Identität des grammatischen Subjekts nahelegen. Hört der Geist des Träumenden also im Traum sich selbst oder einen anderen? Die gleitende Referenz der Anfangspartien verwischt diese Unterscheidung strategisch. Träumendes und streitendes Subjekt werden auf diese Weise lose gekoppelt.11 Darauf greifen auch die schließende Rahmenpartien zurück, die das Ich des Träumers als beobachtenden Geist re-identifizieren und die Vision als eigenes Widerfahrnis des Subjekts werten: Wie ist mir suender geschehen / Daz ich diz wuonder han gesehen! (V. 567f.)12

      Auch innerhalb des Streitdialogs bleibt die Seele trotz angedrohtem Aufbruch fortgesetzt beim Körper und verwickelt sich in das gemeinsame Streitgespräch: Est gut daz ich noch blibe / Umb diese rede schiere / Und mit dir dispuotiere (V. 250–252). Die Form der disputatio,13 reduziert auf die Grundgestalt argumentativer Wechselrede, koppelt so die Gegner performativ umso fester aneinander, je entschiedener sich diese voneinander abzusetzen behaupten. Obgleich Gott die Seele zur Herrscherin (V. 202: frauwe) über den Körper als ihrem diener (V. 200) bestimmt habe, seien beide im Leben aufeinander angewiesen, wie der Körper mehrfach unterstreicht. Nicht nur Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsvermögen habe Gott der Seele verliehen, sondern auch die Kraft der Belebung (V. 345–348); ohne die Seele sei der Körper also zu keinerlei Tätigkeit in der Lage, nicht einmal überlebensfähig (V. 223–226). Wenn beide miteinander nach dem Tod leiden müssten (so erwartet es die Seele: V. 160–163), dann deshalb, weil beide schon im Lebenszusammenhang als organische Einheit verbunden gewesen seien (so bestätigt es der Körper: V. 387f.). Gegenläufig zu den Entkopplungswünschen der Seele betont somit der Körper eher die funktionale Kopplung und Interdependenz beider.14

      Solcher Kopplung verleihen die Teufel am Ende der Vision im wahrsten Sinne des Wortes Substanz. Sie schlagen Eisenhaken ›tief in die Seele‹ (V. 501), zerren sie zu einem Höllenfeuer, wo sie ihr Haut und Bauch aufschlitzen, kochendes Blei und Kot einflößen und die Augen verätzen:

       Sie warn an der martel snel:

       Sie zarten ir abe daz fel

       Die siten und den r ue cke,

       Daz ir nirgen st ue cke

       Bi einander bliben waz.

      (V. 521–525)

      Das Folterprogramm verleiht der Seele auf diese Weise einen metaphorischen Körper,15 den auch die lateinische Visio explizit benennt (V. 286: a toto corpore pellem abstraxerunt). Umgekehrt hatte auch die Seele zuvor dem Körper basale Fähigkeiten zur Selbstlenkung zugesprochen: Stets sei dessen sin (V. 276) auf irdische Angelegenheiten gerichtet gewesen, weshalb er nun [u]z bitterlichem hertzen (V. 358) bereue.

      Dies führt in Ansätzen zu paradoxen Überkreuzungen von Körper und Seele, wie sie Seelenkämpfe wie die Klage Hartmanns von Aue in den Mittelpunkt rücken. Als entscheidende Neuerung gegenüber externalisierenden Modellen der Seelenkampf-Tradition sucht die Visio Philiberti die Streitpartner nicht einfach zu scheiden. Systematisch zielt der Text vielmehr auf ein Selbstverhältnis loser Kopplung, das zwischen funktionaler Differenz und Einheit, hierarchischer Subordination und reziproker Koordination fortgesetzt oszilliert – bis auch hier Teufelsfiguren den Abbruch erzwingen.

      (3.) Verstrickungen – Konsistenzgewinne im Widerstreit. Das Selbst des exemplarischen Menschen, das sich im Traum kurzzeitig vervielfacht, sieht sich damit als Widerstreit von eigenständigen und abhängigen Instanzen. Der mittelhochdeutsche Text bringt diese Kommunikationsbeziehung der Selbstbegegnung auf den Begriff: Ich han die wort verstricket dir (V. 173, Herv. B.G.) – im Streitdialog markieren Geist, Seele und Körper nicht bloß gegenstrebige Positionen, sondern verflechten diese miteinander. Wenn Streit generell kommunikative Verbindlichkeit schafft, so verschiebt sie das Kampfmodell des Selbst in zweifacher Weise. Er führt einerseits zu Verlusten von externer Rückversicherung und Feedback: Statt auf imaginative, heilsgeschichtliche oder soziale Außenräume auszugreifen,16 schließen sich Selbstbezüge als Kommunikationskreislauf ein und destabilisieren ihre Fremdreferenz. Dementsprechend sieht sich die Seele von ihrem Schöpfer verlassen, während sie mit dem verfluchten Streitpartner des Körpers umso enger verbunden ist (V. 413–430).

      Dies eröffnet andererseits neue Gewinne an interner Konsistenz. Statt disjunktive Ordnung im Menschen vorzustellen, wie es das Leitmodell der Psychomachia unternimmt, kostet der Visionsdialog umgekehrt aus, den rehten orden (V. 288) anthropologischer Grenzziehungen zu verwirren. Die Rahmenerzählung der Traumvision wie auch der Streitdialog produzieren Übergriffe, die formal gesehen Eingriffe in die Gegenseite der Unterscheidung bedeuten und die Form des Selbstverhältnisses in sich fortlaufend überkreuzen. Seele und Körper klagen einander an und gehen aufeinander ein, betrachten sich als Gegner und Partner zugleich, als geselle in der Hölle (V. 51), die gemeinsames Leiden teilen (wir beide: V. 68, 77, 292; vgl. auch V. 160: mit mir liden); während jeder dem anderen Übertretung ankreidet, erkennen sie einander als zugehörig an (V. 142: armer corper; V. 433: arme sele min); bald beschimpfen sie wüst die Verfehlungen des anderen, dann überhäufen sie sich – im deutschen Text konsequent fortgeführt – mit performativen Höflichkeitssignalen (während der Körper die Seele als ›Herrin‹ adressiert, siezt diese zurück: Ir lip [V. 253], Her lip [V. 443]). Rasch kommen beide überein, dass statt pauschaler Schuldzuweisungen beide Seiten als belastet, beide als ›teilweise‹ miteinander verstrickt zu betrachten sind und daher beide ›teilweise‹ im Recht sind:

      [Körper:]

       Ein teil mag sin wol wesen war,

       Daz ander nit als umb ein har

      (V. 185f.)

      [Seele:]

       Du hast ein teil doch war gesagt:

       Ez ist der warheit auch wol glich,

       Schuldig bin ein teil ich.

      (V. 262–264)

      Auch dies verstärkt paradoxe Verschränkungen der Wettkampfform: Trennung fordert abwägende Perspektiven, die Anthropologie der Hierarchie (Herrschen und Dienen) betont zugleich Momente der Koordination.

      Komplexität erhöht diese Überkreuzungsstruktur, indem sie Grenzverletzungen in verschiedene semantische Räume einzeichnet. Unter Vorzeichen der Macht erscheint das Selbst dadurch als Herrschaftsverband mit unscharfer Abgrenzung von Kompetenzen und Gewalt,17 in rechtlicher Perspektive als Komplizenschaft mit beiderseitiger Teil-Schuld. Die mittelhochdeutsche Bearbeitung geht über die lateinische Vorlage noch hinaus, indem sie außerdem Konnotationen erotischer Verführung verstärkt: Der Seele hält der Körper vor, ihm wie eine Herrin dem Diener nach dez fleisches site (V. 232–234) nachgegeben zu haben. Auch die Seele konzediert Verführbarkeit: doch zuge mich / Mit suezzer truegenheit an dich (V. 289f.). Macht, Recht und Begehren stellen damit drei semantische Felder, um das Selbst als Unterschiedenheit in Einheit zu dynamisieren.

      Der Dialog stellt diese Dynamik des Widerstreits in seinen strukturellen Mittelpunkt. Weder geht es strenggenommen um die psycho-physische Konstitution des Menschen (der Visionstext ist weder medizinischer noch theologischer Traktat), noch etwa darum, nach dem Muster des Prudentius Ordnung herzustellen. Unordnung menschlicher art (V. 416) wird vielmehr verhandelt und dadurch ausgeformt.18 Verschiedene Meta-Signale bezeichnen diesen Wettstreit. So eröffnet den Streitdialog etwa die etablierte Wettkampfmetapher des Schachspiels;19 provokant klagt die Seele über das widerstrebige Arrangement mit dem Körper; auch die Wirkungsabsicht des gesamten Textes zielt primär auf mentale Beunruhigung, die erst sekundär zur Ruhe führe:20