Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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       Wer es in gnaden lesen h oe rt,

      Sin gemuete wirt zerstort

       Und gewinnet da von ruwe

       Und lihte dugent n ue we.

      (V. 587–592, Herv. B.G.)

      Was die Vision für den Rezipienten als mentalen Ruhezustand anpeilt, ist textintern der Konsistenzgewinn einer unruhigen Modellperson. Während der lateinische Text am Ende nur knapp mit einem Konversionsgebet auf das Rahmen-Ich zurückschließt (V. 305–312), weitet Heinrichs Bearbeitung die Reaktion des erwachenden Ich auf vierfachen Versumfang aus (V. 563–592) und gestaltet über die Redewiedergabe des Stoßgebets hinaus aus, wie die Traumvision zur Gedankenrede verarbeitet wird. Die Streitpartnerschaft verflochtener Gegner verfestigt somit auf narrativer Ebene des Traumberichts das Selbstverhältnis zu einem Ich, das dem unbestimmten Schläfer des Textauftakts (V. 5: ein selig man) konkretere Kontur verleiht. Wenn die Heidelberger Handschrift inseriert, der abschließende Rahmenbericht sei Dez meisters rede (fol. 56), greift dies eine Personalsemantik auf, mit der die Streitpartner ihre schwankende Ordnung absteckten: meisterschaft (V. 277) hatte die Seele reklamiert, um ihre Dominanzansprüche zu bezeichnen, die am Körper scheiterten, wie sich umgekehrt der Leib auf gelehrte meister (V. 339) der Herrschaftstheorie beruft, um seine Sicht zu untermauern. Meisterschaft bezeichnet damit eine paradoxe Streitbeziehung, die sich schließlich in der Rahmenperson des ›Meisters‹ bündelt – die lateinische Überlieferung der Visio verwendet an dieser Stelle den Begriff des auctor. Seine Identität erwächst aus der Turbulenz des Wettstreits.21

      Dieses Konsistenzangebot trägt die Vision schließlich auch an den Rezipienten heran, indem sie diesen in ihre Anredestrukturen zu verstricken sucht. So reiht die erste Anklagerede der Seele anaphorische Vorwürfe, die über den Fiktionsrahmen weit hinausgreifen:

       Du bist in den tornen niht

       Die man mit quader steinen siht;

       Du bist nit in dem palas

       Da din wirtschaft inne waz;

       Du lijst uf dem blozen bret

       Dar uf man dich zu grabe dret.

      (V. 33–38 etc.)

       Wo ist n uo der wingart berg?

       Wo sint n uo die vorwerg?

       Wo sint n uo die palast,

       Die torne die du gemaht hast?

       Wo sint die golt ringelin?

       Wo sint die guldin vingerlin?

       Wo ist din gut, du veiger sot,

       Daz dir lieber waz dann Got?

      (V. 87–94 etc.)

      Dass diese Kaskaden strategisch auf den Rezipienten zielen, wird an Vorwürfen deutlich, die gegenüber dem fiktionsinternen Körper tendenziell widersinnig, als allgemeine Vergänglichkeitsmahnungen hingegen stimmig zu lesen sind: Du muost vor war ein spise sin / Den maden und den wormen, / Die dir den lip zerstormen (V. 104–106). Nicht dem Körper, sondern dem Menschen (und dies schließt den Modellmenschen der Rahmenerzählung ein!) wird der Körper zerfressen.

      (4.) Streit auf ZeitBegrenzungen von Latenz. Diese Konsistenzbildung durch Widerstreit wird dem Innen des Selbst zugerechnet. Explizit vermerkt die lateinische Visio, das träumende Ich wähne sich beim Erwachen wieder außer sich versetzt (V. 306: extra me positus). Wenn Verstrickungen dieses Ich verfestigen, so ist der Streit von vornherein zeitlich begrenzt: Streiten kann die Seele nur, wenn und solange sie Zeit hat (V. 139: dum tempus habeo), das Gespräch muss daher rasch geführt werden (V. 251: schiere). Wenn die plötzlich intervenierenden Teufel diese Begrenzung eintreiben, wird der Streitdialog keineswegs transformiert, sondern krass abgebrochen, das Formergebnis unvermittelt auf die Rahmenperson zurückgespielt.

      Die Visio Philiberti verstärkt damit latente Strukturbildung, begrenzt diese jedoch zugleich. Vervielfältigend wirkt dabei weniger ihre thematische Drohkulisse – z.B. dass man weder im Kloster noch auf der Adelsburg vor innerem Konflikt sicher sei (V. 450–457) –, sondern vielmehr die Formperspektive innerer Selbstverstrickung mit temporären Haltepunkten. Die Form des Wettkampfs produziert einen alternierenden Streitdialog, der in den Kontext eines Traumes ein- und schließlich auf die Erzählebene des erwachenden Ich ausgelagert wird. Vorgebildet ist damit eine neue Form von Selbstverhältnissen, die besonders für plurale Personenentwürfe bedeutsam wird, wie sie auch die höfische Epik des 12. Jahrhunderts entdeckt:22 Ihr Ergebnis sind Verhältnisse der Selbstdifferenz durch Wettkampf, die mit Krisen und Konversionen nicht einfach abgelegt sind, sondern Paradoxien in sich speichern, die jederzeit wieder dynamisch hervorbrechen können. Symbolische Innenräume – vom Herz bis zum Traum – stehen dafür in langer diskursgeschichtlicher Tradition. Doch wird im Hochmittelalter ein besonderes Interesse greifbar, diese Innenspeicher als Medien der Vervielfältigung zu nutzen.

      2.4 Der Streit in mir: Zur Klage Hartmanns von Aue

      Früher als Heinrichs Bearbeitung der Visio, doch systematisch aufbauend auf Modelle wie die Streitvision ist die Klage Hartmanns von Aue anzusetzen. Ihr Experiment1 geht dahin, die widerstreitende Innensphäre noch weiter von Außenreferenzen abzukoppeln und gleichzeitig das Verstrickungspotential der Wettkampfform zu vertiefen. Hartmanns unikal im Ambraser Heldenbuch überlieferter Streitdialog entwirft den Menschen im »inneren Kampf« mit sich selbst und hält ihn auf Dauer »auf dem inneren Schauplatz der Wahrnehmung« des Widerstreits.2 Der Streit auf Zeit wird ein êwiger strît (V. 900) des Selbst.3

      Voraussetzung dafür schaffen fundamentale Irritationen, welche die nach außen gerichtete Kommunikationsbeziehung erschüttern, nach innen wenden und dort sich selbst gegenübersetzen. Hartmann konfrontiert in Gestalt von Herz und Körper zwei Streitpartner, deren Zusammenspiel grundlegend gestört erscheint:4 wir sîn niht rehte zesamen geweten, so beklagt sich das Herz,

       wan wir ziehen niht gelîche.

       man solde uns wærlîche

       von ein ander scheiden;

       daz kæme uns rehte beiden.

      (V. 908–912)

      Solcher Wunsch, doch besser getrennt zu werden,5 entspringt nicht bloß einem unbalancierten Ordnungsproblem im Nachklang des Sündenfalls, wie die ältere Forschung diskutierte;6 der Dissens zwischen Herz und Körper betrifft nicht bloß die Modellperson des verliebten jungelinc (V. 7), der wenige Verse darauf fiktionsintern als von Ouwe her Hartman konkretisiert wird (V. 29),7 dessen geistig-physische Einheit durch die Erfahrung unerwiderter Liebe aus dem Lot geraten ist. Störungen – gestörte Unterordnungen8 wie gestörte Nebenordnungen – greifen auf allen Ebenen der Klage um sich, wie im Folgenden zu zeigen ist.

      Dies setzt bei der Problemschilderung verweigerter Beziehung an, von der Hartmanns Dialog ausgeht. Mit der abweisenden Dame wird, gewissermaßen als Rollenzitat des Minnesangs, zunächst die Dimension des ›alter‹ als unzugänglich erlebt: ich enweiz, konstatiert der Körper, war umb si mir niht ist guot (V. 98). Für den Fall, dass die Umworbene doch noch seinem Willen nachkomme, habe der Jüngling seinen Kummer zu verbergen gesucht. Dies habe ihn in die Latenz eines Selbstgesprächs getrieben:

       er klagete sîne swære

       in sînem muote

       und hete in sîner huote,

       sô er beste kunde,