Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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an, die den Menschen im Widerstreit ›aus sich heraus bringen‹12 und dadurch letztlich Widerstreit zu ordnen, zu überwinden und auszuschalten suchen. Medial verstärkt wird diese externe Oppositionsstruktur von Bildprogrammen, die Tugenden und Laster in Reihenkämpfen einander gegenübersetzen und asymmetrisch ordnen.13

      Gegenläufig dazu zeigt die zitierte Passage des VI. Buches aber auch, wie Thomasin diese externalen Modellvorgaben mit innovativen Beschreibungen und Mustern kombiniert, wie sie Hartmanns Klage entwickelt hatte: Auch der Welsche Gast zielt auf Verstetigung, Latenz und Vervielfältigung der Wettkampfform. Diese Ausweitungen setzen bereits bei der Sozialreferenz des Wettkampfszenarios an, das sich zunächst an adlige edel rîter guot wendet, dann aber ihre Rittersemantik und die Beschreibungen von Lastern und Tugenden auf jeden ausdehnt, der nur ethische Vollkommenheitsansprüche an sich stelle (Herv. B.G.):

       Swer rîter heizet ode ist,

       der sol sich ze dirre vrist

       ze wer bereiten harte wol.

      ein ieglîch biderbe man sol

       beidiu an alter und an jugent

       sich wâfen gegen der untugent.

      (V. 7419–7424)

      Auch an vielen anderen Stellen pendelt Thomasins Lehrschrift gleichsam zwischen elitärer Begrenzung und Entgrenzung ihres impliziten Adressaten (swer, man, wir etc.).14 Wie die zitierte Definition zugleich spiegelt, wird auch die Zeitdimension gedehnt. Was die Allegorie von Lastern und Tugenden als präsentisches, punktuelles Kampfgeschehen vor Augen stellt (V. 7457: nu tuo war; 7466: nu wer dich etc.), zeichnet Thomasin zufolge eine lebenslange Aufgabe vor (an alter und an jugent, V. 7434, nochmals V. 7704 u.ö.), genauer: eine Aufgabe, die in jedem Moment neu zu bewältigen sei (V. 7648: zaller stunde, V. 7478: zaller vrist), die andauerndes Bemühen fordert (V. 7803: tac unde naht), ganz gleich swie lange (V. 7427). Entworfen wird damit eine Zeitstruktur der »Dynamisierung«,15 die durch Akte kämpferischer Unruhe auf Permanenz zielt. Während die natürliche Welt auf Makroebene ihre Struktur durch unablässigen Wettkampf der Elemente gewinne (V. 2420: der strît wirt alle tage getân), bilde sie auch der Mensch auf Mikroebene in sich täglich neu. So nachdrücklich Thomasin also die Ethik des Wettkampfs auf ihr transzendentes Telos verpflichtet, so beharrlich dehnt sich solcher Wettkampf im Diesseits: swer wil êwiclîchen leben, / der muoz vehten zaller vrist (V. 7528f.). Während Prudentius mit dem finalen Triumph der Tugenden, die schließlich Gott einen Siegestempel errichten, das eschatologische Ende des Kampfes betont, zeigt sich Thomasin vielmehr an der fortwährenden Spannung eines unabsehbaren Kampfes interessiert, der paulinische bzw. augustinische Lebensentwürfe fortschreibt.16 In gewisser Weise basiert auch dies auf einem Trägerdiskurs. Wie Hartmanns Klage den Kampf ausgehend vom Minnediskurs verstetigt hatte, verstetigt ihn Thomasin mit den Mitteln religiöser Semantik zum bellum continuum.17 Das allegorisch-überzeitliche Modell des Seelenkampfs wird dadurch nicht bloß temporalisiert. Vielmehr wird die dichotome Grundstruktur eben jenes Entscheidungsmodells aufgelöst und auf Dauer gestellt, das die Konfrontation von Tugenden und Lastern eindringlich aufruft:18 Das ganze Leben steht ›unter Waffen‹ (V. 7556). Übung und Bewährung statt raschen Siegen und Niederlagen – der Seelenkampf wird zum Trainingsplatz normativer Habitualisierung ausgebaut.19

      Eine zweite einschneidende Veränderung der Erzähltradition zeigt sich im Hinblick auf die Medien, in denen sich normative Orientierung verwirklicht. Von der werlde als Handlungsraum schwenkt der Blick nach innen: Gut zu leben heißt, der guoten gedanke breite schar in den Kampf zu führen (V. 7376). Ritterschaft bestehe daher nicht im Zerbrechen von Lanzen (V. 7445f.), sondern in mentalen Dispositionen gegen Verlockungen der werlde: Gegen Vergnügungslust, körperliches Begehren und hämische Meinung helfen Klugheit, Glaube, Ehrfurcht, Gottesliebe und Hoffnung. Von diesen dianoetischen und kontemplativen Tugenden wendet sich Thomasin dann jedoch wieder nach außen, indem er zu Handlungen in der Welt rät. Zum richtigen Leben gehöre, ze tuon (V. 7788) zu haben, und zwar nicht nur mit Vergnügungen, sondern mit Rat und Tat (V. 7814): sô sol er tac unde naht / arbeiten nâch sîner maht / durch kirchen und durch arme liute (V. 7803–7805). Zielt die allegorische Imagination darauf, den Wettkampf zu internalisieren, so führt ihre Auslegung zurück auf ein äußeres Handlungsprogramm der vita activa. Diese Übersetzung spielt Thomasin fortgesetzt in beide Richtungen durch: Wer seinen täglichen Tätigkeiten und Pflichten mit Freude nachgehe, beweise guoten sin (V. 7849) und guote[n] wille[n] (V. 7844), im Diener solle man stets auch den Menschen ehren (V. 7868–7870), denn selbst im Unfreien ließen sich Seele und gedanc, der beste Teil im Menschen, nicht bezwingen (V. 7878–7880). Daraus folgen soziale Maximen: Seiner Frau wohlgesonnen und Angehörigen vertraulich zu begegnen, stehe dem Ritter gut an (V. 7831–7834). Immer rascher wechseln interne und externe Perspektiven, bis sich beide Richtungen zusammenschließen: der man hât einen vrîen muot / der gerne tuot daz er tuot (V. 7851f.). Die Innen-Außen-Differenz der Wettkampfform wird zur Kippfigur.

      Zusammenfassend ergibt das eine spannungsreiche Mischung. Thomasin greift unübersehbar die Tradition externaler Seelenkämpfe samt ihrer ordnungsorientierten, auf Veräußerung inneren Streits gerichteten Teleologie und ihre allegorisch-ekphrastischen Darstellungstechniken auf, öffnet im Gegenzug jedoch die Wettkampfform für dynamische Wechsel. Vorbildliches Verhalten verdankt sich einerseits internalisierten Dispositionen und mentalen Akten (gedanken), muss andererseits aber auch beharrlich verkörpert und in konkreten sozialen Handlungsvollzügen realisiert werden (tuon); Tugend bedarf einerseits teleologischer Zielbestimmung (V. 7697f.: ze got […] / durch die rehten güete), andererseits aber fortgesetzter Übung, die unbestimmt ausgedehnt ist. Anspruch solcher Tugendlehre ist einerseits die exklusive Identitätsbildung (ritter), andererseits maximale Ausweitung jenseits von Standesgrenzen oder spezifischen sozialen Kontexten (biderbe man). Insgesamt zeigt sich damit eine Form, die zwischen Reduktion und Vervielfältigung der Differenzen von Seele und Körper, aber auch zwischen Abschluss und Iteration ihrer Zeitstruktur sowie Eingrenzung und Entgrenzung ihrer Subjekte pendelt. Auch dies kann man als Latenzzusammenhang im funktionalen Sinne interpretieren: Thomasins Ethik entwirft im Wechselspiel von begrenzenden und entgrenzenden Wettkampfformen ein normatives Leitbild, das sich in medialer, zeitlicher oder akteursbezogener Hinsicht entweder ausgesprochen einfach und verdichtet zeigt oder aber als komplex und widerstreitend enthüllt.

      Innovativer als die Tugend- und Lasterkataloge, die Thomasin konventionell zitiert, ist also die Form des ethischen Selbstverhältnisses, in welche sie das VI. Buch einbettet. Innen- und Außenseiten, verborgene und aufgedeckte Komplexität des Modellsubjekts werden fortgesetzt wechselbar – Hartmann und, in noch kürzerer Gestalt, auch die Visio Philiberti hatten dies im Grunde genommen nur zweimal vollzogen. Das Latenzmodell wird damit zu einer Art Scharniermechanismus, um zwischen Innen und Außen, Verbergen und Aufdecken des Subjekts zu wechseln.

      Schon im Abschnitt über den Wettkampf zeitigt das neue Unruhe. Denn mit der Beweglichkeit der Form erhöhen sich auch die Möglichkeiten, Identität als Differenzordnung aufzudecken. Zentrale Attribute und Vorgänge, die Thomasin dem Prozess normativer Habitualisierung einschreibt, neigen dadurch zur Spaltung. So z.B. das Konzept von arebeit / müe: Einerseits nämlich sei der Kampf gegen Laster vil müelîch (V. 7552, 7648 u.ö.), der Mensch habe die Mühsal als eigene Last infolge des Sündenfalls zu tragen (V. 7639–7642), weshalb man sich auch im Alltag unablässig um gute Handlungen bemühen müsse (V. 7804: arbeiten); andererseits solle man den Kampf im Zeichen der Tugend gerade nicht als grôz müe betrachten (V. 7431). Gleiches gilt für Bezeichnungen und Bewertungen des Kampfes: Einerseits sei strît das Ergebnis von Lastern (V. 7204) und seit dem Fehltritt Adams ein lästiges Übel der ›conditio humana‹, von der erst die Gnade Gottes erlöse (V. 7597–7630), während Konflikte im Diesseits die menschlichen Gemeinschaften zerreißen; andererseits gelange der Mensch nur mit dem strîte gegen Laster zurück zu Gott (V. 7697–7704). Statt Unordnung im Menschen auszuräumen, wie es die zitierte Erzähltradition externaler Seelenkämpfe anstrebte, gewinnen