Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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helfen drei innere Tugenden; Buch VII: fünf Fähigkeiten innerhalb des Körpers richten sich auf fünf Dinge außerhalb etc.), ist die Unordnung nicht weit.20 Sie ist tatsächlich nicht auf die expliziten Wettkampfpassagen des VI. Buchs beschränkt, sondern prägt den Welschen Gast insgesamt. Von Anfang an begegnen Zurechnungsprobleme: Grundsätzlich könnten Körper innere Zustände und Emotionen zu erkennen geben, weshalb auch Laster und Tugenden an spezifischen Gebärden ablesbar seien (V. 912–926). Allerdings nur in Grenzen: Leider tröge sehr oft der Schein, weil viele Menschen ihre wahren Gefühle listig zu verbergen verstünden (V. 927–946). Weder stellt Thomasin also die Koppelbarkeit von Innen und Außen, muot und lîp grundsätzlich in Frage, noch spielt er ihre Kontingenz herunter, sondern betont beides: Habitualisierung bewegt sich damit von Anfang an in einem instabilen Spannungsfeld von sehen und heln. Tugend wird somit zu einer Form der Latenz, die natürliche Anlagen aufdeckt und aktualisiert, aber nicht voraussetzungslos oder gegen schlechte Grundlagen erzeugt werden kann.

      Doch auch diese fortlaufende Differenzierungsdynamik der Latenz hat ihre Grenzen. So scheinen aus Transzendenzperspektive jederzeit Unterbrechungen möglich, wie Thomasin an anderer Stelle vermerkt: Niemand könne seine Gedanken (muot) vor Gott geheim halten (V. 3494–3502), latente Traumgedanken des Kampfs beende Gott mit dem Erwachen (V. 3483–3488). Im alltäglichen Zusammenleben aber drohen permanent Täuschung und Verstrickung, die eine Latenzperspektive des permanenten Kämpfens befördert.

      Thomasin diskutiert dies ausführlich am Begriff der stæte, die er als Kardinaltugend und Voraussetzung aller anderen Tugenden bestimmt (V. 1707–2528).21 Sorgsam arbeitet er ihn aus Negationen heraus. Beständigkeit erkenne und erlange nur, wer sich von Unbeständigkeit abkehre, weshalb zunächst über unstæte zu sprechen sei (V. 1821–1836). Mit einer paradoxen Definition unterstreicht Thomasin, dass sein Diskurs der Vorbildlichkeit weniger auf trennscharfe Bestimmungen zielt. Es geht vielmehr darum, Verschränkungen zu entwirren: unstæte ist stæte an boesen dingen (V. 1839). Darin klingt erstens eine beunruhigende Einschätzung von Vielfalt an. Unbeständige wollten immer Verschiedenes, morgens dies und abends anderes, vor allem aber immer mehr (V. 1875–1893). Beständigkeit hingegen verlange Reduktion: swer stæt wil sîn, der sî an einem (V. 1894). Vereinfachung durch Begrenzung auf eine Domäne aber falle zweitens von Natur aus besonders schwer: Jedes Ding habe seinen Platz in der Welt, nur der Mensch könne seinen orden nicht halten (V. 2611–2614). Arme wollten reich werden, Diener herrschen und Mächtige bedürften Helfer und Ratgeber, die sie wiederum in Konkurrenz und Neid verstrickten. Der Machtlose verwickele sich in Kämpfen nächtlicher Racheträume, in denen er seine wehrlosen Feinde niedermetzele (V. 3455–3482), und der Ehrgeizige träume von ruhmvollen Turnieren im muot. Mit negativem Unterton spricht Thomasin in diesen Fällen von Traumlatenzen, welche die Gothaer Handschrift, vor allem aber die ältere Heidelberger Handschrift als vergleichsweise grob geordnete, clusterartige Kämpfe illustrieren.22

      Auf allen Ebenen der Gesellschaft entfache dies Kampf: Städte, Länder und Reiche gerieten deshalb in Unordnung. Mit der gesamten christlichen Erzähltradition der Seelenkämpfe sieht Thomasin dahinter heilsgeschichtliche Ursachen: Über Adam, der nicht nur Urahn des inneren Kampfes, sondern ebenso der Unbeständigkeit ist (V. 2529–2578), werden allgemeine Menschheitsgeschichte und individuelle ethische Perspektive verbunden. Thomasins Wettkampfordnung der Tugend basiert damit nicht nur erzählerisch, sondern auch diskursiv, semantisch und genealogisch auf einer latenten Anthropologie der Unordnung.

      Das Modell des Seelenkampfes entwirft den Menschen damit komplexer, aber auch ambivalenter. Thomasin lobt Latenzbeziehungen keineswegs einseitig, sondern verachtet Lüge und Intrige (so etwa prononciert im Buch II) – und formuliert zugleich eine Ethik, die sich Latenz in strukturellem Sinne anverwandelt. Eine solche Darstellungsstrategie, die je nach Perspektive zu Vereinfachung und Vervielfältigung einläd, schuf ein bewegliches Angebot zur sozialen Pluralisierung von Vorbildlichkeit, welche sich in feudalen wie bürgerlichen, in säkularen wie geistlichen Kontexten adaptieren ließ.23 Doch bereits um 1215 spiegeln Thomasins Diskurs der stæte und seine latente Form des Wettkampfs Kippfiguren von Verinnerlichung und Veräußerlichung, mit denen die höfische Erzählliteratur arbeitet. Protagonisten wie Hartmanns Gregorius bilden ihre Identität, indem sie zwischen Veröffentlichung und Verheimlichung »latenten Vorwissen[s]« oszillieren;24 und wie Thomasin den Ehrgeiz am Beispiel eines Mannes geißelt, der aus Ruhmsucht allein in sînem muot Turniere ausrichtet (V. 3809–3854), inszeniert auch Hartmann die Prätention höfischer Identität mittels Latenzphantasmen, die im Wechsel zwischen Innen und Außen prekäre Geheimzonen bilden. Wie das folgende Kapitel näher beleuchtet, vertieft besonders Hartmanns Iwein solche Geheimzonen der Latenz.

      3 Unterlaufene Wettkämpfe: Zum Iwein Hartmanns von Aue

      Nicht nur didaktische Texte wie Thomasins Welscher Gast beschäftigt die Frage, wie sich Identität mittels Kampf verstetigen und gleichzeitig dynamisieren lässt. Auch fiktionale Artusromane kultivieren seit dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts das Erzählen vom Kampf als komplexe Form von Inkorporierungsvorgängen, welche ihre normativen Dispositionen nicht nur verfestigen und einüben, sondern gleichzeitig – und mitunter sogar gegenläufig – deren Irritierbarkeit verstärken. Im Blick auf die ersten deutschsprachigen Adaptationen der Gattung galt das Forschungsinteresse jedoch lange Zeit den sozialen Normen und ethischen Perfektionsansprüchen von Zielzuständen, zwischen denen Krisen und Bewährungswege der ritterlichen Protagonisten allenfalls vermitteln. Während der Erec-Roman in diesem Sinne als Problemgeschichte sozialer Trägheit gelesen wurde, die ihren Tiefpunkt im verligen des Herrschers findet, galt der Iwein als komplementäre Kritik pflichtvergessener Rastlosigkeit, die zum versitzen im Sattel führe:1 Nachdem der Held durch aggressives Zweikampfverhalten âne zuht (V. 1056)2 und exzessive Turnierfahrten das Ideal ritterlicher Kontrolle bis in den Wahnsinn überschreitet, finde Iwein erst über den mühevollen Weg selbstloser Hilfstaten zurück in die höfische Gesellschaft – und damit zu einem maßvollen Habitus von Mitleid und Schonung, der Ehre und Minne kontrolliert ausbalanciere.3 Streit galt in dieser Perspektive als dysfunktional, während man den ritualisierten ritterlichen Kampf als Mittel der Konfliktlösung, Pazifizierung und Integration betrachtete.4

      Diese Leitvorstellung höfischer Selbstkontrolle und Befriedung hatte Bruno Quast grundsätzlicher Kritik unterzogen: Statt Wildheit und Gewalt auszuschalten, lerne Iwein vielmehr, Gewaltpotentiale über die liminale Phase eines sozialen Dramas (Victor Turner / Arnold van Gennep) zu inkorporieren; höfische Kultur, so Quast, nehme Gewalt damit in sich hinein.5 Auch über den Iwein-Roman hinaus hat die mediävistische Erzählforschung seitdem den Blick für zahlreiche Hybridisierungsprozesse von Identität und interne Gewaltpotentiale höfischer Kultur geschärft.6 Revidiert ist damit die ältere Gattungserwartung, die den Artusroman als affirmatives Instruktions- und Reflexionsmedium von Vorbildlichkeit verstand.7

      Auch wenn normative Interpretamente fragwürdig geworden sind und die Forschung vom damit eng verknüpften Strukturmodell des ›Doppelwegs‹ abgerückt ist, wurden einige seiner Basisannahmen nicht ersetzt. Hierzu gehört zum einen das Prozessschema der Entwicklung: Was auch immer Erec und Iwein aus- oder einüben, erleiden oder reflektieren, so die Prämisse, es fügt sich – trotz punktueller Kontingenz der Ereignisverknüpfung für die Protagonisten – zu einem linear gerichteten Weg.8 Es braucht kaum betont zu werden: »Mittelalterliche Erzählung ist Zeitkunst, zum sukzessiven Hören bestimmt.«9 Auch der Artusroman kann auf sequentielle Handlungsabfolge nicht verzichten, seine narrative Informationsvergabe erfolgt im Nacheinander. Doch ebenso auffällig sind in Hartmanns Iwein Momente, die sich linearer Organisation sperren. Dies betrifft nicht bloß den vermeintlichen Lernprozess entlang des Doppelwegs, der für den Iwein zu Recht problematisiert wurde.10 Dies betrifft nicht nur den quasi-mythischen Raum des Quellenreichs, in dem Raum und Zeit eher zyklisch als linear erscheinen.11 Und es betrifft nicht nur Hartmanns Vorliebe, seine Figuren in Dilemmasituationen eher ›perplex‹ zu verstricken, als sie daraus wiederum zu lösen.12 Es betrifft – noch grundlegender – die Prozessförmigkeit der Erzählung überhaupt. So konfrontiert der Roman zum Beispiel mit einer Geschehensordnung, die zwar von Aufbruch und Rückkehr des Helden zum Artushof, von Rückzugs- und Reintegrationsbewegungen in die höfische Gesellschaft