Bent Gebert

Wettkampfkulturen


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tatsächlich ein ›Konfliktlösungsmodell‹ darstellen, weshalb leistet sich die höfische Literatur in großer Zahl Wettkämpfe mit aufwändig verschobenen oder verhinderten Lösungen (wie z.B. die Begegnung von Gawein und Gasozein in der Krone oder den Gerichtskampf von Gawan und Gramoflanz im Parzival), Wettkämpfe mit Schein-Lösungen (wie z.B. Artus’ Schlichtungsversuch zum Kampf von Iwein und Gawein oder ambivalente Gottesurteile wie in Gottfrieds Tristan) oder Wettkämpfe mit katastrophalen Auflösungen (wie z.B. im Nibelungenlied)? Zumindest aus Sicht einer Sozialgeschichte, die Gewalt tendenziell als Problemgeschichte thematisierte, geraten solche Kampferzählungen in die Schieflage, Grenzen zu verletzen und Lösungen geradezu zu verwehren.39

      Doch formuliert Friedrich zugleich eine Reihe von Anregungen, mit denen sich die experimentellen Züge solcher Kampfmuster genauer erschließen lassen. (1.) Zweikämpfe experimentieren mit Offenheit, indem sie aus relativ einfachen Strukturvorgaben von Sieg und Niederlage zugleich »Spielräume« eröffnen, die in vielfältiger Weise zur »Projektionsfläche sozialen Sinns« dienen. Positionen werden im Zweikampf nicht zentralisiert und durchgesetzt, sondern in solchen Spielräumen ausgehandelt.40 (2.) Zweikämpfe zielen darüber hinaus auf Beobachtungsmöglichkeiten von Ordnung überhaupt.41 Denn sie liefern nicht nur ein »Medium kultureller Selbstdarstellung des Adels«, sondern »Versuchsanordnungen […], die kulturelle Muster reflektieren«.42 Was auf den ersten Blick als ein Interaktionsmuster der Durchsetzung erscheint, enthüllt sich so auf den zweiten Blick als eine operative Form von Kultur als Beobachtung von Beobachtungsbedingungen.43 (3.) Wenn Zweikämpfe Ordnung beobachten, erproben sie zugleich alternative Möglichkeiten: »Verschiedene Besetzungsoptionen können also in Spannung geraten und sich auf komplexe Art überlagern.«44 Wettkämpfe wären dann nicht bloß als Interaktionsmodell von Siegen und Verlieren zu begreifen, sondern als Frage von Formen,45 die durchgespielt, variiert und vervielfältigt werden können. Dementsprechend wären die unabschließbaren Fortsetzungspotentiale von Wettkämpfen als Hinweis zu lesen, dass auch höfische Romane mit offenen Möglichkeiten ihrer Ordnung rechnen.

      Die nachfolgenden Studien schließen an diese Anregungen an. Mit Blick auf die mediävistische Forschung fällt jedoch ebenso auf, dass die zivilisierungstheoretische Vorstellung vom ›Konfliktlösungsmodell‹ des Zweikampfs selbst dann noch eine prominente Leitvorstellung darstellt, wenn sie als Negativfolie herangezogen wird. Für Viola Wittmann etwa treibe Wolframs Parzival das »Konfliktlösungsmodell […] an seine Grenzen«, indem die Kampfszenen des Romans dessen »Untauglichkeit in komplexen Situationen« wie dem Bruderkampf von Parzival und Feirefiz vor Augen führten, der konsequenterweise in Gewaltverzicht gipfele.46 Grundlegend bezweifelt Wittmann selbst, dass der Sinn solcher Zweikämpfe in »Ergebnisorientierung« nach Sieger und Besiegtem zu suchen sei.47 Alternativen sucht man dennoch vergebens: Statt bei der paradoxen Spannung anzusetzen, dass viele Kämpfe in Wolframs Parzival sowohl entscheidungsorientiert erzählt werden, als auch Entscheidungen verweigern, werden sie als problematische Reflexionen adliger Identität gelesen.

      In anderen Gattungszusammenhängen haben Beate Kellner und Peter Strohschneider umrissen, wie eine solche Theorie ansetzen könnte.48 Ihr Vorschlag setzt bei der agonalen Kommunikation der Sangspruchdichtung an:49 So profiliere sich der Anspruch auf Meisterschaft in der paradoxen Spannung, dass Konkurrenten durch poetisch exponiertes Wissen einerseits zum Verstummen gebracht werden sollen, andererseits aber immer wieder zu Wort kommen müssen, um Bestätigung, Anerkennung und Fortsetzbarkeit von Kommunikation zu garantieren. Diese Wettkampfspannung reflektiert nicht nur die Poetologie des spätmittelalterlichen Meistersangs, der seine komplexer werdenden Liedformen mit agonaler Terminologie belegt.50 Von diesem Kommunikationsparadox her erschließen sich darüber hinaus auch komplexe Redestrategien, die Wissen und Poetik, Reden und Schweigen fortgesetzt potenzieren. Wie diese Spannung von ›Proliferation‹ und ›Destruktion‹ unmittelbar textgenerierend wirkt, belegen die umfang- und variantenreichen Arrangements des Wartburgkriegs. Nicht nur für den Bereich der Spruchdichtung ist dies einschlägig: Viele Wettkampfmuster basieren auf einfachen Formen, die Entfaltungs- und Verwicklungsmöglichkeiten sowohl anstoßen als auch begrenzen. Für eine Theorie von Wettkampfformen, die auch für Erzähltexte fruchtbar zu machen ist, liefert dieses Spannungsverhältnis einen wichtigen Fingerzeig.

      Wie weit eine solche Theorie in kulturgeschichtlicher Hinsicht ausholen müsste und auf welche Gegenstandsfelder sie sich erstrecken könnte, ist hingegen eine offenere Frage. Die bisherigen Antworten der Mediävistik weisen in unterschiedlichste Richtungen, von Analysen spezifischer Felder bis zu Agonalitätskonzepten mit globalen Erklärungsansprüchen. Verdanken sich Wettkampfformen in erster Linie innerliterarischer Motivbildung,51 ästhetischer Muster52 oder speziellen Gattungskonventionen? Verweisen dialektische Zuspitzungen und Oppositionsstrukturen53 in literarischen Texte des hohen Mittelalters auf spezifische Erfahrungs- und Repräsentationsmuster besonderer Milieus wie etwa der ›höfischen Kultur‹ des Adels?54 Oder sollten wir Wettkampftexte eher als Produkte eines übergreifenden »mental habit of the Middle Ages« betrachten,55 einer allgemeinen »Neigung des Mittelalters« zu Kontrast, Konflikt und Streit?56 Kommt in ihnen gar eine »fundamentale Agonalität« zum Ausdruck, die für orale Gesellschaften überhaupt – und damit weit über das Mittelalter hinaus – charakteristisch ist?57 Zwischen solchen enger bzw. weiter gesteckten Prämissen äußern sich Stimmen, die literarische Wettkämpfe als historische ›Geschmacksvorlieben‹58 oder ›Moden‹59 bezeichnen. Will man sich nicht mit vagen Einschätzungen begnügen, so birgt die literaturwissenschaftliche Forschung also eine doppelte Gefahr: Wettkämpfe entweder zu eng zu fassen (z.B. als höfisches Interaktionsmuster) oder aber zu entgrenzen (z.B. in Richtung epochaler Muster).

      3.2 Grundlagen der Konfliktsoziologie

      Entkommt man dieser Schwierigkeit, wenn man sich einfach an Grundlagentheorien der Streit- und Konfliktsoziologie hält? Einige der angesprochenen Theorieprobleme – besonders im Blick auf die paradoxe Dynamik von Wettkämpfen – finden sich bereits in klassischen Positionen angelegt. So registriert etwa Georg Simmel1 äußerst feinfühlig, welche Spannungen Vergesellschaftungsprozesse des Streits begleiten. Doch ebenso deutlich zeigen sich die Schwierigkeiten, wie konvergierende und divergierende Bewegungen als Einheit zu fassen seien. Simmel sichtet dieses Problem an einem schillernden Spektrum von Kampfformen der unterschiedlichsten ›sozialen Kreise‹: von Rechtsstreitigkeiten und alltäglichen Aggressionen im Stadtleben bis zur Eifersucht von Ehepartnern, vom Kriegsverhalten der Indianer bis zu Disputen der Wissenschaft, von Rivalitäten unter mittelalterlichen Adelshöfen, Katholiken und Protestanten oder unter Künstlern bis zum biologischen Daseinskampf. Alle diese Fälle verbinde Nähe und Widerstreben, wie Simmel am Beispiel von Konkurrenten erläutert:

      Man pflegt von der Konkurrenz ihre vergiftenden, zersprengenden, zerstörenden Wirkungen hervorzuheben und im übrigen nur jene inhaltlichen Werte als ihre Produkte anzugeben. Daneben aber steht doch diese ungeheure vergesellschaftende Wirkung: sie zwingt den Bewerber, der einen Mitbewerber neben sich hat und häufig erst hierdurch eigentlicher Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen […]. (S. 327)

      Nicht nur triadische Relationen der Konkurrenz setzten solche Nähe voraus, im »Verweben von tausend soziologischen Fäden durch die Konzentrierung des Bewußtseins auf das Wollen und Fühlen und Denken der Mitmenschen« (S. 328). Ganz allgemein müssten jegliche »Gegner ein Gemeinsames haben, über dem sich erst ihr Kampf erhebt« (S. 310): »beiderseitige Anerkennung« der Akteure über gemeinsame Objekte des Begehrens (S. 306), institutionalisierte Streitordnungen und der »Zusammenschluß« (S. 360; 354–368) von disparaten Elementen zu Interessenseiten, Gruppen oder Parteien kennzeichneten jegliche Formen und Sphären des Streits. In strukturellem Sinne sieht Simmel darin »ein Gegeneinander, das mit dem Füreinander unter einen höheren Begriff gehört« (S. 284). Kampf tritt damit als paradoxe Beziehung hervor, die sich unter verschiedenen Aspekten näher bestimmen lässt, u.a.

       als zirkulär gebaute, exzessive Dynamik;2

       als »Verweben«, das innerhalb wie auch zwischen Streitenden Komplexität aufbaut (S. 328);

       als Möglichkeit, Differenz zusammenzuführen und Intensitäten