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Standardsprache zwischen Norm und Praxis


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Durch eine Analyse der Genusvariation bei weiteren Anglizismen sollte es der ‚Variantengrammatik‘ jedoch möglich sein, den Einfluss der Arealität zu bestätigen oder zu widerlegen. Die bisherigen Ergebnisse hierzu, auf die ich im gegebenen Rahmen nicht weiter eingehen kann (z.B. zu die/das App und die/das SMS), sprechen jedenfalls dafür, dass eher eine einzellexematische Variation vorliegt.

      4.3. Variation bei der Adverbienbildung -Ø vs. -s: durchweg/durchwegs

      Das Adverb durchweg kann entweder mit einem Nullmorphem gebildet werden oder durch Anhängen eines -s (weitere Fälle wären z.B. öfter/öfters und weiter/weiters). Nach den Angaben des VWBs ist eine Verwendung von durchwegs in Südostdeutschland, Österreich und der Schweiz zu erwarten (vgl. Ammon et al. 2004: 138).

Arealdurchwegdurchweg-s
Deutschland Nordwest705 (100 %)3 (0 %)
Deutschland Nordost853 (100 %)0 (0 %)
Deutschland Mittelwest762 (100 %)3 (0 %)
Deutschland Mittelost811 (100 %)3 (0 %)
Deutschland Südwest926 (97 %)33 (3 %)
Deutschland Südost665 (51 %)643 (49 %)
Österreich West9 (5 %)167 (95 %)
Österreich Mitte7 (4 %)155 (96 %)
Österreich Südost6 (2 %)249 (98 %)
Österreich Ost1 (2 %)56 (98 %)
Schweiz17 (6 %)269 (94 %)
Ostbelgien39 (98 %)1 (2 %)
Liechtenstein1 (8 %)11 (92 %)
Luxemburg12 (92 %)1 (8 %)
Südtirol1 (2 %)48 (98 %)

      Tab. 4: Verteilung von durchweg vs. durchwegs innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus

      Abb. 6: Relative Verteilung von durchweg vs. durchwegs innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus

      Im ‚Variantengrammatik‘-Korpus ergeben sich für durchweg 4815 Belege und für durchwegs 1642 Belege. Dabei zeigt sich ein relativ klares Gebiet, in dem die Bildung auf -s, durchwegs, mehrheitlich, ja oft fast ausschließlich verwendet wird (vgl. Tab. 4 und Abb. 6): Es umfasst (von Ost nach West) Österreich, Südtirol, Liechtenstein und die Schweiz. In den übrigen Regionen wird demgegenüber oft fast ausschließlich durchweg benutzt, mit einer hervorstechenden Ausnahme: der Südosten Deutschlands, also Bayern. In diesem – interessanterweise an das für durchwegs die höchste Verwendungsrate aufweisende Österreich angrenzenden – Gebiet werden beide Adverbvarianten zu fast gleichen Teilen verwendet.

      Eine Deutung erscheint hierbei schwierig. Nimmt man die Werte für den deutschen Südwesten als Indiz hinzu, könnte man vielleicht von einer Tendenz sprechen, durchwegs generell eher in Süddeutschland und – mit noch höherer Wahrscheinlichkeit – in den südlichen deutschsprachigen Ländern inkl. der Region Südtirol anzutreffen. Eine Herleitung aus dialektalen, oberdeutschen Gegebenheiten erscheint mir ob des stark distanzsprachlichen Charakters des Lexems eher unwahrscheinlich; wenn überhaupt, müsste es durchwegs bereits in der historischen obd. Schreibsprache gegeben haben.

      Ob durchweg oder durchwegs – beides ist nach den vorliegenden Ergebnissen klar als standarddeutsch einzustufen.1

      4.4. Variation in der Trennbarkeit von Verben: widerspiegeln

      Dieser Fall wird ausführlich thematisiert in Niehaus (2015). Ich fasse mich deshalb hier etwas kürzer.

      Einige Verben lassen sich (in Hauptsätzen) trennbar und untrennbar gebrauchen, z.B. aberkennen, anerkennen, auferlegen und widerspiegeln. Für widerspiegeln ergeben sich also folgende Varianten:

       (1.) Die eingeladenen Mannschaften spiegeln die Handball-Weltklasse wider. (Kieler Nachrichten Online).

       (2.) Das hochkarätige Line-up der „Duette“-Tour widerspiegelt einen Ausschnitt daraus. (1815 – Das Oberwalliser Nachrichtenportal).

      Diese stark von der Syntax abhängige Variable ist im lexikalisch-semantisch vorgehenden VWB (mit Ausnahmen im Vorspann) nicht verzeichnet.

Arealwiderspiegeln trennbarwiderspiegeln untrennbar
Deutschland Nordwest253 (100 %)0 (0 %)
Deutschland Nordost256 (82 %)56 (18 %)
Deutschland Mittelwest207 (100 %)0 (0 %)
Deutschland Mittelost265 (83 %)54 (17 %)
Deutschland Südwest239 (98 %)6 (2 %)
Deutschland Südost391 (99 %)5 (1 %)
Österreich West27 (84 %)5 (16 %)
Österreich Mitte60 (92 %)5 (8 %)
Österreich Südost60 (95 %)3 (5 %)
Österreich Ost9 (90 %)1 (10 %)
Schweiz18 (13 %)119 (87 %)
Ostbelgien12 (100 %)0 (0 %)
Liechtenstein0 (0 %, u.S.)7 (100 %, u.S.)
Luxemburg13 (100 %)0 (0 %)
Südtirol8 (80 %)2 (20 %)

      Tab. 5: Verteilung von trennbarer Verwendungsweise/untrennbarer Verwendungsweise bei widerspiegeln innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus

      Im ‚Variantengrammatik‘-Korpus finden sich 1818 Belege für die trennbare Verwendung von widerspiegeln wie in (1) und 263 Belege für die untrennbare Verwendung wie in (2).1 Daraus könnte man ein überregional starkes Übergewicht der Variante (1) ableiten, allerdings zeigt sich, dass der Blick auf die Areale ein anderes Bild ergibt (vgl. Tab. 5 und Abb. 7): Die Belege für die untrennbare Variante (2) sind stark konzentriert auf die Schweiz, wo sie sogar die große Mehrheit des Gebrauchsstandards (87 %) darstellen, auf Westösterreich mit 16 % der Variable sowie auf den Nordosten und Mittelosten Deutschlands – also wiederum auf die Gebiete der ehemaligen DDR – mit 18 % bzw. 17 % der Variable. Im an die Schweiz grenzenden Westösterreich und in den ‚neuen Bundesländern‘ Deutschlands kommt die untrennbare Variante also durchaus relativ häufig vor verglichen mit den übrigen Arealen des jeweiligen Landes.

      Abb. 7: Relative Auftretenshäufigkeit von trennbarer Verwendungsweise/untrennbarer Verwendungsweise bei widerspiegeln innerhalb der einzelnen Areale im ‚Variantengrammatik‘-Korpus

      Zu revidieren ist die Annahme, die untrennbare Variante sei eine ausschließlich nationale, nämlich schweizerische Standardvariante (vgl. noch Dürscheid & Hefti 2006: 139).2 Eine weitergehende Erklärung steht hier noch aus, denkbar wären der Einfluss eines fachsprachlichen Registers3 oder das Vorliegen tradierter Schriftsyntaxkonventionen, in Nordost- und Mittelost-Deutschland etwa durch den behörden- und obrigkeitsgeprägten Stil der DDR-Bezirkszeitungen, deren Nachfolger die heutigen Regionalzeitungen dieses Gebiets sind.4

      4.5. Zwischenfazit

      Die Ergebnisse zu den behandelten Phänomenen vermitteln einen klaren Eindruck: Relative Varianten sind offenbar in der Grammatik nicht unbedingt eine Randerscheinung. Absolut nationale Varianten kann es auch geben, aber – so viel sei vorweggenommen – die präsentierten Ergebnisse stehen in einer allgemeinen Tendenz, die das Projekt ‚Variantengrammatik‘ bisher festhalten kann: nämlich, dass grammatische Varianten in vielen Fällen Relativität statt Absolutheit zeigen. Es dürfte anhand dieses Befundes zumindest für die Grammatik des Standarddeutschen anzuzweifeln sein, ob absolute Varianten in der Mehrheit sind und ob sich überhaupt eine Legitimation