Kathrine Switzer

Marathon Woman


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zwei Meilen. Lachend fügte ich hinzu: »Nur nicht so schnell!« Dann lief ich los, beschloss, ein gleichmäßiges Tempo zu laufen, da ich nicht wusste, was sie noch mit mir vorhatten. Als ich zurückkam, hatten einige Erstsemester ihr Training beendet, und der Trainer bat einen Studenten, mit mir über ­ihren Kurs zu joggen. Ich entschuldigte mich für mein langsames Tempo, aber den jungen Mann störte das nicht, er würde sich sowieso gerade auslaufen, was immer das bedeuten mochte. Und so endete mein erster Trainingstag mit insgesamt fünf Meilen in langer Hose und Bluse, ich hatte ein gutes Gefühl und war glücklich, dass ich mich nicht ganz zum Narren gemacht hatte. Arnie bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Er konnte nicht wissen, wie dankbar ich sein Angebot annahm, und erzählte ohne Punkt und Komma von seinen guten Zeiten als Läufer, dass er sogar Zehnter beim Boston Marathon geworden sei und immer noch, nach all den Jahren, den Upstate-New-York-Marathon-Rekord hielt, kannst du dir das vorstellen, aber jetzt sei er verletzt, er hatte es am Knie und an der Achillessehne, nun, das kam vor, er sei zum Laufen zu alt, die Arbeit als Briefträger sei schon hart genug, er war wirklich der Postbote in der Comstock Avenue, und deswegen würde er mit dem Auto zum Golfplatz fahren und nicht laufen, und er sei seit 25 Jahren verheiratet, aber seine Frau habe das Laufen von Anfang an gehasst, habe einfach nie verstanden, was er daran so liebte, nun, das wissen wir ja auch nicht, nicht wahr? Jedenfalls arbeitete er mit dem Team und half beim Training der Jungen, seit er aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt war. Im Zweiten Weltkrieg hatte er sich beim Absprung mit dem Fallschirm über Frankreich den Rücken gebrochen. Der Arzt dort meinte, er solle laufen, um Arthritis zu vermeiden, also könnte er auch gut Trainer Grieve hier helfen, der ihn brauchte, er wurde ja auch nicht jünger, und so bin ich hier der »inoffizielle Team­manager«. Er grinste. Wir gaben uns die Hand, und ich bedankte mich. »Bis morgen«, rief er mir zu, als ich aus dem Auto stieg.

      Ich trainierte jeden Tag. Manchmal lief ich zum Golfplatz, aber meistens holte Arnie mich am Huey Cottage ab, sobald er seine Briefträgertour beendet hatte. Wir fuhren erst zur Sporthalle, wo wir uns umzogen, und dann zum Country Club. Ich hatte beschlossen, während der ganzen Zeit auf dem Golfplatz zu laufen, aber ich war sehr langsam und konnte nicht mal mit dem langsamsten Läufer mithalten. Ich wusste auch nicht, welche Strecke ich nehmen sollte, da ich den Golfkurs nicht kannte. Bald fing Arnie an, ein bisschen mit mir zu joggen, wahrscheinlich tat ich ihm leid, aber er dachte auch, dass er trotz seiner Behinderung mit mir Schritt halten könnte. So wurden wir zu einer festen Größe, der humpelnde und schlurfende ältere Mann neben der jungen Frau, die locker, aber langsam lief.

      Arnie schnatterte die ganze Zeit wie eine Ente. Er war voller Geschichten, und für mich war dieses viele Laufen so ungewohnt, dass ich nicht noch die Puste hatte, dabei zu reden. So lief ich, schnaufend wie ein Zug, neben ihm, und manchmal stieß ich eine keuchende Antwort aus. Es war erstaunlich, wie wenig kardiovaskuläre Kapazität Arnie im Lauf der Jahre verloren hatte und wie fit er wirkte. Sicher, seine Haare waren grau, er wurde kahl, er hatte tiefe Falten im Gesicht, aber er war schlank und, wie alle Läufer, hatte er fabelhafte Beine. Er trug immer graue Shorts und ein graues T-Shirt, und wegen seiner grauen Haare und seinem leicht aschefarbenen Gesicht nannte ich ihn immer Mr. Monochrom. Ich konnte ihn aufziehen, und er mochte das. Aber, um die Wahrheit zu sagen: Wenn er nicht dieses verletzte Knie gehabt hätte, hätte er es mit etlichen dieser jungen Männer aufnehmen können, und ich habe ihn von Anfang an bewundert. Immerhin war er schon fünfzig! Uralt!

      Jeden Tag hatte Arnie eine neue Geschichte vom Boston Marathon auf Lager. Er war ihn fünfzehn Mal gelaufen. Und obwohl ich auch manchmal etwas über die heiße Zeit in Yonkers erfuhr, die Buddy Edelen ruinierte, oder von Arnies Triumphen beim Around-The-Bay-Lauf, erzählte er doch meistens eine weitere Geschichte über Boston. Darüber, wie er trotz der großen Hitze im Jahr 1952 Zehnter wurde oder vom legendären Johnny Kelley, dem Älteren, der dutzende Male den Boston Marathon gelaufen war, und von Johnny Kelley, dem Jüngeren, der nicht mit dem anderen Kelly verwandt war und 1957 gewann, oder von Tarzan Brown, der während des Wettkampfes in einen See sprang, einfach weil ihm zu warm war. Arnie lief inzwischen schmerzfrei; das weiche Gras und das lockere Tempo taten ihm gut. Die Tage und die Meilen flogen vorbei, und bald würde Arnie alle seine fünfzehn ­Boston-Geschichten erzählt haben und wieder von vorn anfangen. Es war wie die Schleife eines Films, die alle zwei Wochen von vorn anfängt. Er hätte mir genauso gut Geschichten über Achilles und Hector, Ajax und ­Apollo erzählen können, denn Arnies Helden wurden meine Götter, und Boston wurde für mich heiliger als die olympischen Gefilde.

      Drei Monate später, im Dezember 1966, saß ich auf den Zuschauerplätzen in der Sporthalle und wartete darauf, dass Tom, der attraktive Trainer-Assistent, Student im letzten Semester, seine Arbeit als Trainer ­beendete. Ich fühlte mich rundherum wohl. Arnie und ich waren zehn Meilen auf der Straße gelaufen, draußen war es dunkel und kalt. Bei Wind und Wetter zu laufen erfrischte mich, ich fühlte mich wie gereinigt. Und dass ich die zehn Meilen geschafft hatte, konnte ich mir im Kalender rot anstreichen. Tom und ich hatten jetzt eine Beziehung auf freundschaftlicher Basis. Er hatte gesagt, dass meine einfachen Stoffturnschuhe ungeeignet wären, und als er merkte, dass ich keine anderen Schuhe kannte, hatte er mir freundlich angeboten, mit mir zu einem Spezialgeschäft zu gehen, wo ich Schuhe in guter Qualität aus Deutschland bestellen konnte. Heute Abend war Shoppingabend.

      Außer mir trainierte die gesamte Crosslaufmannschaft seit einem Monat drinnen, in der Halle. Sie liefen auf der Bahn, elf Runden waren eine Meile. Ich hasste natürlich das Bahnlaufen. Mir missfiel nicht nur der Drill, wie Hamster im Laufrad, sondern auch das Ziel, nämlich möglichst schnell zu laufen. Ich wollte lange laufen können, nicht schnell. Als ich meine ersten Sprinteinheiten in der Halle absolviert hatte, schmeckte es danach jedes Mal wie Blut in meiner Kehle, und meine Beine waren weich wie Gelee.

      Außerdem hasste ich das Innere der Sporthalle, damals war der Innenraum mit Sand belegt, und alles war voller Staub. Um den Staub einzudämmen, kam alle zwei Tage eine Maschine und spritzte Öl auf den Sand. Die Folge war, dass man nicht nur staubig, sondern auch schmierig wurde, das Haar roch nach Motoröl, und Nase und Lunge füllten sich mit Partikeln, die meinem Gefühl nach bestimmt nicht ungefährlich waren. ­Einer der wichtigsten Gründe für das Laufen war schließlich, meine Lunge täglich mit frischer, sauberer Luft zu füllen. Ich war überzeugt davon und bin es heute noch, dass eine Stunde tiefes Ein- und Ausatmen an der frischen Luft mehr Krankheiten heilen kann als jedes Medikament. Deshalb hatten Arnie und ich beschlossen, dem Winter die Stirn zu bieten und weiterhin draußen zu laufen. »Bisher ist niemand mit mir den Winter durchgelaufen!«, jubelte Arnie.

      Tom war in seinem Element, er arbeitete mit den Werfern, nicht mehr mit den Crossläufern. Ich wurde nie müde, ihn dabei zu beobachten, wie er demonstrierte, auf welche Weise man mehr Schwung aus den Drehungen in die Diskusscheibe oder aus der Hüfte in den Stoß der Kugel bringen kann. Es war faszinierend. Tom war gelenkig wie ein Tänzer, eine ungewöhnliche Eigenschaft für einen so großen und stattlichen Mann. Er war nur 1,795 Meter groß (der halbe Zentimeter war wichtig für ihn, denn er mochte den Spitznamen Big Tom) und wog über zwei Zentner. Er hatte gewaltige Oberschenkelmuskeln, einen breiten Rücken, breite Schultern, einen starken Hals, aber keine besonders auffallende Arm- oder Wadenmuskulatur. Und vergleichsweise winzige Füße – vielleicht Größe 41. Die Füße waren sein besonderer Stolz, ein echter Pluspunkt für einen potenziellen Hammerwerfer von Weltklasse, weil er dadurch seine Drehungen schneller ausführen konnte. Wenn er den Werfern zeigte, wie sie sich bewegen sollten, wirbelten seine Füße herum, sie waren ihm nie im Weg. Er vollführte beim Hammerwerfen eine geradezu phänomenale Pirouette, seine Füße waren ein einziger Wirbel. Ich fand sein Können bei diesem mir völlig fremden Vorgang fabelhaft; so unerfahren ich auch war, ich konnte ein echtes Talent erkennen. Er konnte den Hammer nicht oft werfen, weil das zu gefährlich war, und er warf ihn fast niemals in der Halle – es sei denn, sie war leer, was fast nie der Fall war, und solange das Wetter blieb, wie es war, konnte er nicht unter freiem Himmel werfen. Also trainierte er mit den jüngeren Werfern aus den niedrigeren Semestern, stemmte Gewichte und ersetzte das Hammerwerfen durch das Werfen von kiloschweren Gewichten, was er ohne Gefahr in der Halle machen konnte, da sie nie sehr weit flogen.

      Seine Brust und sein Bauch waren außerhalb der Wettkampfsaison ­etwas wabblig, aber wenn er in Form war, wurde alles wieder fest und stramm, ohne besonders ausgeprägt zu sein. Er gehörte zu den Männern, die nicht so sehr Kraft ausstrahlten, als vielmehr