Kathrine Switzer

Marathon Woman


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Man konnte Tom nicht mal eben umhauen und ein Mädchen fühlte sich sicher bei ihm. Ein sexy Typ war er eher nicht. Wäre er ein freundlicherer Mensch gewesen, ein Mann, der auch mal lächelte, hätte er als Teddybär durchgehen können. Aber so war er nur selten, dafür meistens ungeduldig! Wenn er mit den Werfern arbeitete, hörte man nie ein »Okay, das ist schon besser!«, sondern: »Jetzt aber, die Hüften, die Hüften, Hüften, Herrgott noch mal!!!«

      Die Kombination dieser Eigenschaften machten ihn für mich ungeheuer attraktiv. Mit vielen seiner Charakterzüge war ich vertraut, ich schätzte sie – die Stärke, das Können –, hinzu kamen Eigenheiten, die mir völlig fremd waren und die mich faszinierten: Er war oft launisch und herrisch. Aber vor allem war er der geborene Athlet. Ich kannte niemanden, der von Natur aus talentiert war. Ich kannte nur Menschen, die hart arbeiten mussten. Wie sehr ich mich auch bemühen würde, ich wusste, dass ich keine herausragende Begabung hatte – das galt nicht nur für mein Laufen, sondern auch für mein Aussehen und meine intellektuellen Fähigkeiten. Ich war nur besser als der Durchschnitt, und deshalb fühlte ich mich Tom nie ebenbürtig, was ihn perverserweise noch attraktiver für mich machte, denn dadurch stand er für mich eine Stufe höher. In der Tat gibt es keine objektive Größe für adoleszente Logik, obwohl ich nicht weiß, ob man mit neunzehn die Adoleszenz noch als Entschuldigung anführen kann.

      Ich war also an dem Abend, als wir die Schuhe kauften, überrascht und geschmeichelt, als Big Tom mich fragte, ob er mich noch zum Dinner einladen dürfe, und er war plötzlich zugänglicher, weniger unerreichbar und sehr interessant. Er schüchterte mich immer noch ein, schließlich war er die Sportskanone, vier Jahre älter als ich und wusste mehr über Sport als alle Menschen, die ich kannte. Er erzählte mir von seinen Plänen, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, das war sein ehrgeiziges Ziel, aber er fühlte sich von der AAU, der nationalen Sportkommission, eingeschränkt. Die AAU organisierte die Wettkämpfe, in denen die Sportler sich für Olympia qualifizierten, wir hatten nur diese eine Stimme in der IAAF, dem internationalen Leichtathletikverband der Amateure, und dieser Verband wiederum war als einziger stimmberechtigt im Internationalen Olympischen Komitee (IOC). Die AAU war übermächtig, und ihre Regeln für Amateure hielten Tom davon ab, mehr mit seinem Sport zu verdienen als ein studentischer Assistenztrainer in Syracuse. Er erzählte mir Horror­geschichten von der AAU, die Sportler nach der geringfügigsten Übertretung ausgeschlossen hatte. Man musste die Regeln haargenau einhalten, um nicht als Profisportler eingestuft zu werden und nie wieder als Amateur­wettkämpfer antreten zu dürfen. Das war wirklich tragisch, denn niemand hatte so viel Geld, um zu Wettkämpfen anreisen oder sich eine anständige Ausrüstung kaufen zu können oder, und das war das Schlimmste, so viel Zeit zu haben, um richtig trainieren zu können. Sein Traum, sagte er, sei es, ein paar Jahre zu haben, in denen er einfach nur trainieren dürfte, dann wäre er mit Sicherheit ein Olympionike. Wow, ich war beeindruckt. Innerhalb weniger Wochen wurden wir ein »Paar«.

      Kurz vor den Weihnachtsferien kam ich eines Tages nach meiner letzten Vorlesung um 16.05 Uhr aus dem Hörsaal und war so müde, dass ich vor dem Abendessen nur noch ins Bett fallen und ein bisschen schlafen wollte. Es war schon fast dunkel und es schneite heftig. Arnie stand mit dem Auto vor der Tür, er parkte im absoluten Halteverbot und hielt unruhig nach mir Ausschau. Er hoffte, mich unter der Menge der Studenten zu finden, ehe die Campuspolizei ihn zum Weiterfahren auffordern konnte.

      Ich hasste seine Beharrlichkeit. Ich hasste sogar ihn. Wir hatten uns nicht für heute verabredet, er war einfach gekommen, weil er wusste, wann meine letzte Vorlesung zu Ende war und ich ihm nicht entkommen konnte. Missmutig stieg ich ein, er dagegen war bestens gelaunt. »Hast du deine Sachen dabei?« Er war immer bereit, so wie ein Hund, der immer begeistert nach dem Stöckchen rennen will. Ich schämte mich sofort für diesen Gedanken, aber ich wollte nicht weich werden. »Ich laufe heute Abend nicht, ich bin einfach zu müde«, erklärte ich schnippisch. »Ich habe meine Sachen auch nicht mit, sie sind im Wohnheim.« »Ohhh, oh«, lamentierte er, als ob ich ihm eine große persönliche Enttäuschung bereitet hätte! Ich mochte es nicht, wenn Arnie jammerte, und er jammerte ständig. Es war seine Entscheidung gewesen, im Auto weiß Gott wie lange zu warten, nicht meine. »Wie wäre es mit einem lockeren 6-Meilen-Läufchen, damit bist du im Handumdrehen fertig«, schlug er vor.

      Ich zankte mich mit ihm, bis ich merkte, wie kindisch ich mich verhielt und wie viel Zeit ich verschwendete. Ich konnte genauso gut Laufen gehen, ich würde sowieso keinen Schlaf mehr bekommen, da die Studenten schon in den Speisesaal strömten, also schnappte ich mir meine Lauf­sachen, und wir fuhren zur Sporthalle, um uns umzuziehen. Wegen meines Zögerns hatten wir fast eine Stunde verloren, und ich war nicht nur beschämt, sondern auch wütend auf mich selbst, weil ich immer zu wenig Zeit hatte. Wir würden uns beeilen müssen, damit der Speisesaal nicht schloss, bevor wir vom Laufen zurückkamen, und so wie die Dinge jetzt standen, würden sowieso nur noch die letzten festgebackenen Reste ­irgendeines Auflaufs in den Töpfen übrig sein. Das machte mich noch wütender auf Arnie.

      Als wir aus der Hintertür der Sporthalle in die Colvin Street kamen, lag der Schnee bereits zehn Zentimeter hoch, und die Reifenspuren der Autos waren trotz der Rushhour fast sofort wieder zugeschneit. Zunächst bahnten wir uns auf einer einzigen Spur am Straßenrand den Weg, fanden unseren Rhythmus neben den vorbeisausenden Autos und Scheinwerfern entlang der Kurven und Unebenheiten der Straßen, die wir nicht mehr sehen konnten, die uns aber sehr vertraut waren. Der Schnee trieb hinter uns her, wurde über unsere Köpfe geweht und wogte vor uns wie ein flatterndes Segel, das von den Straßenlaternen herunterhing. Die Autos fuhren in den Schneesturm hinein und ich wusste, dass sie weder deutlich sahen, wohin sie fuhren, noch uns rechtzeitig bemerkten. »Was für ein blödsinniger Abend zum Laufen, wir werden möglicherweise umgefahren, aber das kann mir jetzt auch egal sein!«, dachte ich damals.

      Als wir uns dem Golfplatz näherten, wurde die Straße ländlicher, es gab kaum noch Verkehr, wir rannten Seite an Seite, im Gleichschritt. Wir konnten ein paar Meter weit sehen, deshalb hatten wir Zeit, die Straße zu verlassen, wenn ein Auto sich näherte. Ich fühlte mich sicherer, war aber immer noch sehr nervös und lief verkrampft. Der beste Teil des Laufens war, wenn die Anspannung verschwand, wenn sie verflog in dem Strom der unzusammenhängenden Gedanken und Ängste und ich frei und ­locker lief. Das geschah immer dann, wenn ich es zuließ oder einfach nur lange genug lief. Aber an jenem Abend hatte ich schlechte Laune, und aus ­irgendeiner selbstzerstörerischen Anwandlung heraus wollte ich auch schlecht gelaunt sein. Ich rannte und schlug auf die Luft ein wie ein Boxer. Arnie spürte das und wollte eine Unterhaltung in Gang bringen, hörte von mir aber nur einsilbige Antworten oder ein Grunzen. Trotz dieser weißen grenzenlosen Weite fühlte ich mich wie in einem Gefängnis, in dem ich unerträglich lange mit diesem Mitgefangenen eingesperrt war. Doch statt einfach den Mund zu halten und zu laufen, machte Arnie das, was bei mir unter Garantie ankam: Er erzählte noch eine Geschichte von einem seiner fünfzehn Boston-Marathon-Rennen. Es war seine Art, mir zu verstehen zu geben, dass es kein guter Abend für einen Lauf war, dass er wusste, wie müde ich war, aber schau, jetzt sind wir hier, also lass uns das Beste daraus machen.

      Als wir uns der Ecke am oberen Ende der Peck Hill Road näherten, blies uns der Sturm ins Gesicht. Der Schnee lag jetzt an die fünfzehn Zentimeter hoch und war nass. Nicht pulvrig-griffig, wie Schnee für einen guten Lauf sein kann. Noch schlimmer war, dass die Straße wieder schmal war, ohne einen richtigen Randstreifen, und wenn Autos kamen, mussten wir zur Seite springen und rutschten in den Straßengraben. Die Flocken waren so dick und nass, dass sie an Nase und Wimpern kleben blieben. Es war fast dunkel, und die Welt sah aus wie in Gaze verpackt. Scheinwerfer, die näher kamen, wirkten wie diffuse Streifen. Wir rannten wieder hintereinander, kullerten übereinander, wenn es bergab ging, und traten uns bergauf in die Hacken. Wenn Autos kamen, war Arnie so intensiv in seine Geschichte von Boston vertieft, dass er nicht zur Seite sprang. Im Gegensatz zu mir. Als ob ich plötzlich zum Leben erwacht wäre und doch noch nicht sterben wollte. Dann musste ich ihm schlitternd hinterherrennen; meine neuen Schuhe waren noch nicht eingetroffen, und meine schwarzen Stofftennisschuhe waren wie Wasserflugzeuge. Die Autofahrer, die uns begegneten, fuhren hektisch. Nun ja, ich mache euch Schwächlingen keinen Vorwurf, dachte ich im Stillen. Jeder, der an diesem Abend unterwegs ist, aus welchem Grund auch immer, ist dumm, aber bei diesem Wetter zu laufen, das ist unfassbar dumm. Und neben mir lief Arnie und plapperte vergnügt vor sich hin, als gäbe es keine Krise. Schließlich schrie