Kathrine Switzer

Marathon Woman


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so überrascht, dass er sich zu mir umdrehte und allen Ernstes sagte: »Oh, eine Frau kann den Boston Marathon nicht laufen.«

      »Und warum nicht?«, fragte ich.

      »Ein Marathon ist sechsundzwanzig Meilen und dreihundertfünfundachtzig–«

      »Ich WEISS, wie lang ein Marathon ist, Arnie. Warum soll eine Frau ihn nicht laufen können?«

      »Auf Frauen trifft das Gesetz vom abnehmenden Ertrag zu.«

      »Und was bedeutet DAS genau?« Arnie konnte mich wirklich auf die Palme bringen. Er benutzte häufig Begriffe wie Die Theorie der Osmose oder Die Lehre der Thermodynamik, um mir etwas zu erklären, was ich meistens ziemlich witzig fand, da das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte, aber an diesem Abend war ich nun mal schlecht gelaunt.

      »Weil ein Marathon immer schwerer wird, je länger er dauert.« Jetzt behandelte er mich wie eine Dumpfbacke.

      »Und?«

      »Frauen schaffen diese Entfernung nicht, sie können nicht so weit laufen«, sagte er. Er meinte das weder entschuldigend noch herablassend noch einschüchternd. Es war einfach eine Tatsache.

      »Aber ich laufe jeden Abend sechs Meilen mit dir! Du erzählst mir ständig, wie gut ich deiner Meinung nach bin, was für Fähigkeiten ich habe! Und jetzt willst du mir weismachen, dass ich physisch nicht in der Lage bin, einen Marathon zu laufen?«

      »Ja, das will ich, denn zwischen zehn Meilen und sechsundzwanzig Meilen liegt ein großer Unterschied.«

      »Tja, Arnie, da liegst du falsch. Im vergangenen April ist eine Frau in Boston die Strecke gelaufen, sie heißt Roberta Bingay, und sie war sehr gut. Sie lief etwa drei Stunden und zwanzig Minuten«, sagte ich schroff. Ich hatte meine Trumpfkarte ausgespielt, war aber auf seine Reaktion nicht vorbereitet. Arnie explodierte, und das jagte mir ein wenig Angst ein, denn ich hatte ihn noch nie wütend erlebt. Er blieb stehen (was er sonst nie machte) und brüllte: »Keine Dame ist je den Boston Marathon gelaufen! Dieses Mädchen ist erst in Wellesley eingestiegen.«

      »Sie ist ihn doch gelaufen. Das weiß ich, weil ich es in Sports Illustrated gelesen habe.« Ich betonte den Namen der Zeitung, denn was in Sports ­Illustrated stand, war für mich so, als stünde es in der Encyclopaedia Britannica.

      »Ich sage es noch mal, keine Frau ist je einen Marathon gelaufen.« Schweigen. Wir schneiten immer mehr ein, und ein paar Autofahrer, die uns zu spät sahen, rutschten fast in uns hinein. »Okay, weiter«, sagte er mürrisch.

      »Ich laufe erst wieder mit dir, wenn du glaubst, dass eine Frau Marathon laufen kann«, sagte ich ruhig.

      »Los, lass uns weiterlaufen.«

      »Nein, Arnie. Du musst doch zugeben, dass Frauen körperlich dazu in der Lage sind. Vielleicht traust du es Bingay nicht zu, schön und gut. Aber IRGENDEINER Frau. Ich kann mit dir nicht mehr laufen, wenn du nicht davon überzeugt bist, dass eine Frau es schaffen kann. Das ist wichtig.«

      Arnies Antwort kam schnell und unmissverständlich. Ich war überrascht. Später kam mir der Gedanke, dass er darüber schon viel nachgedacht haben musste, vielleicht schon seit Monaten.

      »Wenn eine Frau den Marathon laufen kann, dann bist du es, denke ich. Aber selbst du müsstest es mir beweisen. Wenn du mir im Training zeigst, dass du die Distanz schaffst, also ich wäre der Erste, der mit dir zum Boston Marathon fährt!«

      »Okay«, sagte ich und grinste. »Du bist wieder dabei!« Und wir machten uns auf den Heimweg. Müdigkeit und schlechte Laune waren verflogen. Auf dem Rückweg machte Arnie nur noch Pläne, er skizzierte grob, wie wir trainieren würden, dass wir nur drei Monate Zeit hätten, es aber vielleicht schaffen könnten. Ich grinste nur. »Heilige Sch...«, dachte ich. »Ich habe einen Trainer, einen Partner, einen Plan und ein Ziel – das größte Rennen der Welt. Boston! Boston!«

      Kapitel 5 »Du wirst das Mädchen noch ruinieren, Arnie!«

      Am nächsten Sonnabend, bevor ich zu Weihnachten nach Hause fuhr, machten Arnie und ich den ersten »langen Lauf« unseres Plans für Boston. Elf Meilen. Ich war wie in Ekstase. Zum ersten Mal war ich über zehn Meilen gelaufen, was mir ein riesiger Sprung nach vorn zu sein schien, als wäre ich in die nächste Liga vorgestoßen. Es ist merkwürdig, was Laufen bewirkt. Nur eine Meile mehr kann einem das Gefühl geben, etwas ganz Besonderes zu sein.

      Der Trainingsplan für Boston war ganz einfach: Wir liefen weiterhin täglich sechs bis zehn Meilen und machten dann am Sonnabend oder Sonntag einen »langen Lauf«. Wir hatten uns vorgenommen, die Strecke jeden Sonntag um zwei Meilen zu steigern. Wenn ich aus den Weihnachts­ferien zurück wäre, hatten wir noch zwölf Wochen, was bedeutete, dass wir auch mal ­einen Tag auslassen könnten. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir klar, dass ich damals nie richtig über unseren Plan nachgedacht habe, nicht über die Anzahl der vor uns liegenden Wochen, nicht darüber, dass ich mich verletzen oder dass es Rückschläge geben könnte. Ich war auf ­einer aufregenden Entdeckungsreise, und der Plan war der Kompass. Meine größte Sorge war, dass am Tag des Marathons meine Periode einsetzen könnte, aber ich überlegte mir, dass ich die Antibabypille ohne Pause weiternehmen würde, wenn es sein müsste. Was mich daran erinnerte, dass ich die Pillen aus der kleinen Scheibe nehmen und in ein Aspirinfläschchen stecken musste, damit meine Mutter sie nicht entdeckte, wenn ich Weihnachten zu Hause war. Tom und ich schliefen inzwischen zusammen, was riskant und aufregend war, und ich wollte kein Risiko eingehen, weder mit meiner Mutter noch mit Mutter Natur. Ich würde meinen Eltern nach und nach von Tom erzählen.

      Aber meine Liebesgeschichte mit Tom war nicht das Wichtigste, was ich meinen Eltern verschwieg, sondern es waren die elf Meilen, die mich immer noch in Ekstase versetzten. Als sie mich in Washington am Flughafen abholten, sagte ich: »Hi, Mommy und Daddy! Ohhh, wie schön, euch wiederzusehen! Ihr kommt nie darauf. Ich bin vor ein paar Tagen elf Meilen gelaufen!«

      »Ganz schön weit«, sagte mein Vater, der sich konzentriert in den Verkehr einfädelte. Ich merkte, dass ihn Laufen derzeit nicht so sehr interessierte, was mir recht war, und in dem Moment beschloss ich, den Bostonversuch Arnies und mein Geheimnis bleiben zu lassen. Ich wollte nichts ankündigen, was ich nicht auch wirklich machen würde. Ich fand es immer peinlich oder zumindest überheblich, wenn Menschen, die am Anfang eines großen Vorhabens standen, verkündeten: »Ich schreibe ein Buch!«, »Ich sitze an meiner Doktorarbeit!«, oder, am schlimmsten: »Ich bin schwanger!«, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass etwas schiefgeht, am Anfang sehr hoch ist. Und die Niederlage wurde noch dadurch verschlimmert, dass man sie dann wieder allen Leuten gegenüber zugeben musste. Wenn man schließlich gar nicht mehr wusste, wem man alles vorher davon erzählt hatte und die Wunde fast verheilt war, fragte jemand: »Hey, wann promovierst du nun?!« Ich beschloss also, von Boston nichts zu erzählen.

      Anfang Januar war ich nicht mehr ungeduldig mit Arnie. Ich hörte mir mit neu erwachtem Interesse die endlosen Wiederholungen seiner Geschichten an, über seine Fehler, seine Siege, versuchte, sie auf mich zu übertragen. Ich konnte mir trotzdem nie vorstellen, einen Marathon schnell zu laufen. Oder auch nur mit dem Vorsatz, ihn als WETTKAMPF anzugehen. Ich glaubte nicht, dass für mich mehr drin war, als einen Marathon einfach nur durchzustehen. Das war zu meinem Ziel geworden. Außer der vagen Vorstellung, dass ich mein ganzes Leben lang stark und gesund sein und laufen wollte, hatte ich keine sportlichen Ziele, die ich mit diesen 26 Meilen und 385 Yards verband.

      Wir sind nie auf Zeit gelaufen, wir maßen noch nicht mal die Zeit, wenn wir unterwegs waren. Arnie hatte die 3-, 6- und 10-Meilen-Runden mit dem Auto ausgemessen, und unter der Woche liefen wir einfach Variationen dieser Strecken. Immer öfter schloss sich uns an den Wochentagen John Leonard an, ein Läufer aus dem Crosslaufteam. Aber wofür Arnie und ich lebten, waren die Läufe am Wochenende. Die Woche war dazu da, die Form zu halten. Ich freute mich auf die langen Läufe in einer ­Mischung aus aufgeregtem Entdeckerdrang und Bauchschmerzen verursachender Beklemmung. An den Wochentagen hielten sich berauschende Gefühle, etwas zu erreichen, und die Erregung, unentdecktes Gebiet gegen alle Widerstände zu erforschen, die Waage: Würde ich es schaffen, die neue Strecke zu laufen? Was, wenn es wirklich wehtun würde? Könnte ich damit fertig werden?