Kathrine Switzer

Marathon Woman


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      Ich sagte mir immer, dass ich es schaffen würde und dass es mir nicht schaden könnte, weil ich mich so wohlfühlte. Um wirklich sicher zu sein, musste ich es eben versuchen. Ich sah nicht schlechter oder besser aus als sonst, im Gegenteil. Je weiter ich laufen konnte, umso besser fühlte ich mich und zwar in jeder Hinsicht. Für mich war es logisch, dass eine kontinuierlich gesteigerte Anstrengung Mensch wie Tier stärker werden lässt. Ich hatte mich immer darin gesonnt, beides zu sein: eine Frau und eine Sportlerin. Jetzt war ich mir meiner Attraktivität und meiner Sexualität mehr denn je bewusst, beides schien sich in dem Maß zu entwickeln, in dem ich meine Ausdauer und Stärke erkannte, die ich nach einem langen Lauf spürte. Arnie hatte seine eigenen Beweggründe: Er liebte einfach das Laufen, und wenn er diese langen Strecken langsam mit mir lief, schien er seine alten Verletzungen auszuheilen oder zumindest in Schach zu halten. Er war froh, nach so langen Jahren seine Sportlichkeit wieder aufleben zu lassen, Gesellschaft zu haben, gebraucht zu werden und – was er nie aussprach – eine Zeit lang aus dem Haus zu sein und seiner kritischen Frau zu entkommen. Aber gleichzeitig hatte Arnie, ohne dass ich etwas davon merkte, seine eigenen Untergangsfantasien: Wir waren auf unbekanntem Gebiet, und er war der Kapitän. Was, wenn die Erde doch eine Scheibe war und ich auf der anderen Seite herunterfiel? Wer konnte sagen, wie weit eine Frau ohne gesundheitliche Schäden laufen konnte? Was, wenn ich mich beim Laufen schwer verletzte oder davon krank würde; oh, die Vorwürfe, die er sich selbst und die die Kollegen ihm machen würden! Schon jetzt machten sie ihm bei der Post die Hölle heiß und äußerten Bedenken wie: »Du wirst das Mädchen noch ruinieren, Arnie. Sie wird dicke Beine kriegen, ein Mann werden.« »Hübsches Mädchen, Arnie, zu schade, wie es mit ihr weitergehen wird.« »Hey, überlegst du dir überhaupt, was du da machst?« Arnie fühlte sich verantwortlich, aber wem gegenüber und wofür? Darauf hatte er auch keine Antwort.

      Die Kunde, dass Arnie mit einem Mädchen meilenweit lief, sprach sich schnell bis zu Arnies Frau herum. Das Laufen, diese jahrelange Liebe, mit der sie nicht konkurrieren konnte, hatte plötzlich ein Gesicht und einen Namen. Sie hasste Laufen. Punkt. Ob allein, mit Männern, in einem Team. Und jetzt mit einer jungen Frau? Das war zu viel! Sie konnte absolut nicht glauben, dass unsere Beziehung rein platonisch war. Dass uns Kameradschaftlichkeit verband, dass ich seine Schülerin und seine Trainingspartnerin war, weiter nichts. Erst viel später hatte ich den Verdacht, dass sie ihm das Leben zur Hölle machte. Arnie war der sanfteste Mensch der Welt, mir fällt sogar das Wort Weichling ein, aber sein Laufen – und besonders das Laufen mit mir – war über jede Kritik erhaben. Schließlich kam er zum gleichen Schluss wie ich: Solange ich mich steigerte und es mir gut ging, musste es okay sein.

      Arnies Frau war nicht die einzige Frau, die mich hasste. Es schien eine ganze Armada von Frauen zu geben, die uns am liebsten von der Straße gejagt hätten. Es fehlte ihnen der Mut, es zu sagen, wenn wir in Hörweite waren, oder uns direkt anzusprechen. Nein, sie brauchten den Schutz und die Anonymität ihrer Autos. Wenn Arnie und ich um unser Leben springen mussten, war es immer wegen einer Frau am Steuer, nie wegen eines Mannes. Wir sahen sie für gewöhnlich kommen. Ihre Autos wirkten gefährlich, wenn sie wie mit gesenktem Kopf auf uns zurasten, und wenn wir zur Seite sprangen, sahen wir kurz ein giftiges Gesicht hinter der Windschutzscheibe.

      »Shit!«, schrie ich dann. »Verdammt, Arnie, warum ist es immer eine Frau?«

      »Na, sie ist eifersüchtig.«

      »Eifersüchtig. Also wirklich. Sie hätte uns umbringen können. Worauf sollte sie eifersüchtig sein?«

      »Weiß ich nicht. Vielleicht weil du läufst und sie nicht.«

      »Zum Teufel noch mal, Arnie, sie braucht doch nur ihre Turnschuhe anzuziehen.«

      »Ich weiß das. Du weißt das. Sie weiß es eben nicht.«

      Es passierte so oft, dass ich wütend wurde und mir verraten vorkam und allmählich befürchtete, diese Autofahrerinnen repräsentierten möglicherweise die Gefühle der meisten Frauen in Bezug auf Frauen wie mich, die so offenkundig stark und frei war. Sie verstanden es einfach nicht – und ich hatte mit ihnen ebenfalls kein Mitleid. Dann aber passierte plötzlich genau das Gegenteil. Manchmal rief uns eine dicke Dame aus ihrem Vorgarten zu: »Hey, Honey! Weiter so, oder du siehst eines Tages aus wie ich!« Andere Frauen hielten inne, applaudierten und sagten: »Super, Hurra!« Und dann hatte ich wieder Hoffnung für die Frauen dieser Welt.

      Ich liebte den langen Lauf am Sonnabend oder Sonntag bei Tageslicht. Es klingt so banal, aber ein sonniger Tag und tropfende Schneewehen am Straßenrand nach wochenlangem Training in endloser Dunkelheit ermutigten und inspirierten uns. Alles war möglich. Wir könnten ewig so weiterlaufen. Es mag kitschig klingen, aber an sonnigen Tagen war ich so zuversichtlich und hoffnungsfroh, dass mir das Herz aus der Brust zu springen schien.

      Sobald ich die langen Strecken lief, merkte ich tatsächlich, dass mich die Kirche oder jedwede Religionsrichtung nicht mehr interessierten. Ich wurde zu einer großen Zweiflerin an deren Regeln und Ritualen, die ich plötzlich als unnatürlich empfand. Ich spürte jeden Tag: Wenn ich lief, war ich in Kontakt mit Gott, oder Gott war im Kontakt mit mir. Und deshalb erschien mir die Vorstellung absurd, Gott nur an einem Tag in der Woche in einem Haus zu begegnen. Auf meinen Meilen durch weite Ebenen und urwüchsige Landschaften spürte ich Gott überall. Ich war frei, beschützt und angenommen. Der Rhythmus des Laufens und meines Herzschlags eröffneten mir eine nie gekannte universelle Verbindung zu meiner Umwelt, ich war durchdrungen von dieser neu gefundenen Religion, beschwingt und gleichzeitig demütig.

      Ich bin mir sicher, dass dieser Zustand auch durch die Endorphinausschüttung bewirkt wurde, eine Empfindung, die ich in diesem Maße bisher nicht gekannt hatte. Es kommt auch zu einem spontanen Mitteilungsbedürfnis über alles und jedes, tatsächlich vertrauen sich Menschen während des Laufens ihre tiefsten Geheimnisse an. Wenn ich trainierte, fühlte ich mich in einem umfassenden Sinn in der Nähe Gottes, so erging es auch Arnie, einem konvertierten Katholiken. Arnie musste am Sonntag immer sehr früh laufen, um rechtzeitig zur Messe wieder zu Hause zu sein. Das machte mich fertig, weil ich, wie alle Studenten, nur am Wochenende den versäumten Schlaf nachholen konnte. Arnie wusste, dass mich der frühe Aufbruch belastete, und deshalb versuchte er, mich auf unseren langen Trainingsläufen zu dem »einzig wahren Glauben« zu bekehren. Er war wohl der Meinung, dass ich, wenn ich religiös wäre, kein Problem mehr damit hätte, so früh zu starten – ein Lauf war ja so etwas wie der Pass zum Himmelreich. Zumindest war das seine Erklärung. Ich vermute auch, dass er einen Geheimpakt mit Tom geschlossen hatte, der ebenfalls Katholik war, und wenn ich nicht unter dem Einfluss der Endorphine so menschenfreundlich gestimmt gewesen wäre, hätte ich ein Komplott gewittert. Das Aufeinanderprallen der Religionen bewirkte jedenfalls hitzige und oft urkomische Debatten während des Laufens, wenn Arnie seine missionarischen Fähigkeiten einsetzte, um mich zu seinem Glauben zu bekehren, und die Meilen flitzten nur so vorbei.

      Wir trainierten nach Plan. Es ging Schlag auf Schlag: zwölf Meilen, vierzehn, sechzehn. Es war fantastisch. An einem Sonntag im März wollten wir unseren 18-Meilen-Lauf (knapp 29 Kilometer) machen, und es ging mir gut, doch als wir bei der dreizehnten Meile (21 Kilometer) in einer unbewohnten Gegend waren, sagte Arnie: »Warum wirst du langsamer?«

      »Langsamer?«, fragte ich überrascht.

      »Ja. Geht es dir gut?«

      »Klar geht es mir gut«, sagte ich. Es ging mir sehr gut, und ich versuchte, etwas zu beschleunigen. Im Training hielten wir immer das gleiche Tempo. Und der Versuch, ein wenig schneller zu laufen, fiel mir deshalb sehr schwer. Nach einer weiteren Meile sagte Arnie scharf: »Hey! Warum gehst du jetzt?«

      Ich blickte auf meine Beine hinunter. »Himmel, das habe ich gar nicht gemerkt.« Aber es war eindeutig, ich ging nur noch. Ich war überrascht und gleichzeitig sehr schläfrig. Ich wollte wieder loslaufen und konnte nicht. Ich ging. Arnie sagte: »Okay, wir joggen einfach bis zu diesem Telegrafenmast, und dann gehen wir bis zum nächsten, dann joggen wir zum übernächsten und so weiter, bis es dir besser geht.«

      Ich fing an zu joggen, sah auf meine Füße hinunter. Sie bewegten sich schlurfend, dann gingen sie.

      Ich klatschte mir auf die Schenkel. »Los, laufen!« Ich schimpfte mit ihnen wie mit ungezogenen Kindern. Beunruhigt