Kathrine Switzer

Marathon Woman


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und als ich meine Eltern anrief, war es schon spät, aber sie waren sowieso immer noch auf. Auch ihnen musste ich, wie meinen Mitbewohnerinnen, erst einmal erklären, was ein Marathon ist, dann, warum ich in Boston war, und schließlich sagte ich: »Ich bin nervös, weil ich Angst habe, nicht bis zum Ziel durchzuhalten. Für mich ist es aber wichtig, es zu schaffen.« Mein Dad brachte es sofort auf den Punkt, wenn ich ihm von meinen Ängsten erzählte; ich hatte immer Selbstvertrauen, es sei denn, ich hatte Grund zum Zweifeln. Und er reagierte perfekt: »Du wirst das hinbekommen, Tochter, du kannst das!«

      »Dad. Das sind sechsundzwanzig Meilen.«

      »Du wirst es schon schaffen. Du bist zäh, du hast trainiert, du bist einfach großartig

      Es war genau das, was ich brauchte. Mein Dad wusste, dass ich mir nicht unvorbereitet etwas in den Kopf setzte. Er hatte meine Fortschritte im Laufen an der Highschool beobachtet, und obwohl dieser Marathonlauf für ihn überraschend kam, zweifelte er nicht an mir. Ich fühlte mich besser und nur noch ein bisschen deprimiert, als ich auflegte. Denn was ich ihm nicht erklären konnte, war, dass sich niemand sicher sein kann, bis er es geschafft ist, denn ein Marathon ist unberechenbar, die sonderbarsten Dinge konnten passieren, auch und gerade mir! Ich könnte Durchfall bekommen! Ich könnte gegen eine Autotür laufen, die irgendein Trottel öffnete. Arnie hatte mir erzählt, dass das einmal einem Läufer passiert war. Schließlich wurde ich es leid, mir über Dinge Sorgen zu machen, die außerhalb meiner Kontrolle lagen. Am meisten aber machte ich mir über meinen Mut Gedanken. Würde ich tapfer genug sein um weiterzulaufen, auch wenn es richtig wehtat, wenn es schwerer würde, als ich es mir vorgestellt hatte, wenn der Heartbreak Hill mich brechen würde? Ja, genau, davor hatte ich Angst, dass ich nicht genug Mut hätte, wenn es richtig schlimm würde.

      Deshalb beschloss ich, ein Wörtchen mit Gott zu reden, dem ich schon lange vor diesem Rennen viel Respekt und Ehrerbietung erwiesen hatte, es ging mir also nicht um ein Stoßgebet in letzter Minute. Ich fand es selbstsüchtig von Läufern, wenn sie beteten: »Gott, lass mich ankommen«, »Gott, bitte, ich will keine Schmerzen haben«. Wenn man sich richtig vorbereitet hat, glaube ich nicht, dass Gott irgendwo da oben Entscheidungen fällt. Aber ich glaube, dass er (oder sie) uns in der Tat hilft, wenn wir ihn darum bitten, unseren Charakter zu läutern. Deswegen fand ich es fair, ihn anzuflehen, mir den Mut zu geben, die richtige Entscheidung zu treffen, falls es zu hart werden sollte. Denn es würde hart werden. Ein Marathon ist immer hart. Ich hatte lange gebraucht, zum Ursprung meiner Ängste vorzustoßen, aber als ich erkannte hatte, worum es mir wirklich ging, konnte ich tief und fest schlafen.

      Ich dankte Gott auch dafür, dass der Boston Marathon erst um zwölf Uhr mittags startete, denn so konnten wir bis acht Uhr schlafen und um neun frühstücken. Arnie meinte, wir sollten soviel futtern, wie wir könnten, wir würden viel Kraftstoff für den langen und kalten Tag brauchen. Er meinte es ernst, wir hatten Eisregen, Schneeregen, es schüttete und war windig. Wir aßen und tranken alles – Schinken, Eier, Pancakes, Saft, ­Kaffee, Milch, bestellten uns eine Extraportion Toast. Ich fand es aufregend, andere Gäste in dem kleinen Restaurant zu sehen, die ebenfalls graue Trainingsanzüge trugen.

      Der Start um zwölf Uhr mittags erlaubte uns nicht nur ein ausgedehntes Frühstück, sondern gab mir auch die Zeit für eine ungestörte Toilettensitzung, was immer ein Problem bei den langen Läufen vor dem Frühstück für mich gewesen war. Heute war die Reihenfolge für mich perfekt. Ich strich »Durchfall« von meiner Sorgenliste. Keine Periode, kein Durchfall, meine größten Sorgen. Das Wetter bekümmerte mich komischerweise überhaupt nicht, wir hatten seit Monaten bei ähnlichen Witterungsverhältnissen trainiert. Aber etwas ärgerlich war es doch, denn ich hatte am Start hübsch und weiblich aussehen wollen mit meinen frisch gebügelten burgunderroten Laufshorts und dem passenden Oberteil. Jetzt würde ich damit warten müssen, bis ich mich aufgewärmt hatte und die Trainingssachen wegwerfen konnte, wie Arnie es plante.

      Wir gingen in unsere Zimmer zurück, packten unsere Sachen, und ich schminkte mich sorgfältig und steckte mir die Ohrringe an, außerdem schmierte ich mir die Füße dick mit Vaseline ein. Meine Füße waren noch nicht vollständig geheilt von unserem Versuchsmarathon, und ich hoffte nur, dass die Vaseline möglichst lange schützte. Tom hämmerte an meine Tür und streckte mir eine kleine Plastiktüte für Binden aus dem Bad entgegen, an der eine große Sicherheitsnadel befestigt war. »Hier, wir stecken uns das auf die Handschuhe. Das ist perfekt für den Traubenzucker. Schau, du steckst vier Tafeln rein, reißt den oberen Rand ab und befestigst es am Handschuh. Wenn du ein Stück brauchst, reißt du es auf.«

      »Wozu brauchst du denn Traubenzucker?«, fragte ich.

      »Na, das ist doch Zucker für die Energiezufuhr, verstehst du?« sagte er in einem Ton, dass ich mir wieder dämlich vorkam. Tom hatte immer eine Theorie, wusste immer, welches Vitamin oder welches Wunderpulver ­einen stärker machte. Ich wusste nicht, dass Zucker mehr Energie gibt als zum Beispiel ein Stück Brot. Ich war auf meinen langen Läufen oft hungrig und müde, aber ich hatte nie Hunger auf Zucker zwecks Energiezufuhr gehabt.

      »Ich brauche keinen Zucker, so was haben wir noch nie gebraucht«, sagte ich. Ich empfand das als weitere Komplikation. Ich hasste es sowieso, jetzt noch an der Ausrüstung herumzudoktern; wir hatten schon genug Probleme.

      »Woher willst du das wissen? Steck es schon an.« Ich zuckte die Achseln. Es war einfacher, ihm zu gehorchen, als mit ihm zu streiten. Außerdem war Tom jetzt in seine »Erfahrener-Athlet-und-Trainer«-Rolle geschlüpft und kommandierte rum. Er hatte Lampenfieber; so hatte ich ihn schon vor anderen Wettkämpfen gesehen, wenn er stampfend auf und ab ging und schnaufte, und jetzt verhielt er sich genauso. Trotzdem kam ich mir blöd vor, doch als ich mit meinem Koffer zum Auto ging, sah ich, dass Arnie und John die Plastiktütchen auch an ihren Handschuhen befestigt hatten.

      Auf der Fahrt nach Hopkinton wurde der Regen zu Schnee, riesengroße Flocken klatschten an die Windschutzscheibe und auf das Straßenpflaster. Die Straße war nicht gefroren, dazu war es nicht kalt genug, aber die Luft war schneidend, es war knapp über null Grad, und ich wusste, dass ich meinen Trainingsanzug mit Sicherheit nicht würde ausziehen können. Selbst mit Syracuser Maßstäben gemessen war das Wetter einfach nur scheußlich, und in meinen Trainingssachen, die in Hunderten von Trainingskilometern und vom vielen Waschen dünn geworden waren, fühlte ich mich wohl wie in einem Schlafanzug. Dann sah ich eben nicht toll aus, dachte ich, mir musste warm sein und ich musste locker bleiben, das waren die Prioritäten.

      In Hopkinton angekommen parkten wir direkt vor der Highschool, was heutzutage undenkbar wäre, da dort inzwischen viele Tausend Sportler in Flotten von Sonderbussen anreisen und dort stundenlang auf den Start des Rennens warten. Arnie befahl John und mir, im beheizten Auto zu warten, während er den Umschlag mit unseren Startnummern und den Sicherheitsnadeln abholte. Da wir uns als Team gemeldet und die Anmeldeformulare zusammen abgeschickt hatten, würden die Organisatoren unsere Nummern unter dem Namen des Trainers oder des Kapitäns der Mannschaft ablegen, so wie bei jedem Bahn- oder Crosslauf. Tom begleitete Arnie, weil er noch die medizinische Bescheinigung für die Teilnahme brauchte. Arnie kam wenige Minuten später mit den zwei Nummern für Brust und Rücken samt ­Sicherheitsnadeln zurück. Die Nummern sahen aus wie Autokennzeichen. Wir suchten unsere Namen in der ausgedruckten Starterliste. »K. Switzer«, stand neben der Nummer 261. Der Anblick verursachte mir eine Gänsehaut. Auf der Liste waren 733 Namen. Ein großes Teilnehmerfeld. Arnie grummelte, dass es langsam außer Kontrolle geriete.

      Das offizielle Programm des American Marathon Race, besser bekannt als Boston Marathon, von 1967. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich neben meinem Namen K. Switzer die Startnummer 261 las.

      Ich steckte meine beiden Startnummern am Sweatshirt fest, nicht an meinem burgunderroten Oberteil. Das war die endgültige Entscheidung, während des gesamten Laufs dieses Sweatshirt zu tragen, und ich freute mich. Dieses Sweatshirt war in Syracuse Hunderte von Trainingsmeilen mein Kumpel gewesen, und nun würde es noch einen Tag länger leben, statt am Straßenrand auf dem Weg nach Boston zu verenden. Anders als das große Kapuzenshirt,