Kathrine Switzer

Marathon Woman


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mir auf meine Bitte hin vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt, und ich war sehr stolz darauf gewesen. Jetzt würde ich es über Bord werfen – so wie Dave. Das machte mich auch froh.

      Wir verließen das Auto und begannen mit dem Warm-up, während wir auf Tom warteten. Alle liefen in grauen Trainingsanzügen herum, manche mit Kapuzen, andere mit Nylonwindjacken, manche mit nackten Knien, andere mit Laufshorts über der Trainingshose, eine Mode, deren Sinn ich nie begriffen habe. Wenn man die Augen über die Menge schweifen ließ, sahen wir alle gleich aus, nämlich etwas abgerissen.

      Die Läufer, die an uns vorbeikamen, blickten meist angespannt vor sich hin, sie konzentrierten sich auf das bevorstehende Rennen, aber viele sahen mich auch an, und dann lächelte ich zurück oder winkte sogar ein bisschen. Ja, ich bin ein Mädchen, signalisierte mein Blick. Daraufhin drehten sie um, joggten aufgeregt zu mir hin. »Hey! Läufst du mit, bis zum Ende?« »Gott, großartig, hier ein Mädchen zu sehen!« »Hoffe, du weißt, dass es ein paar Steigungen gibt – hast du dich darauf eingestellt?« »Kannst du mir ein paar Tipps verraten, wie ich meine Frau zum Laufen kriege? Ich weiß, dass sie begeistert wäre, wenn ich sie nur dazu bringen könnte, anzufangen.« Arnie hielt geradezu Hof, er versicherte: »Natürlich läuft sie bis zum Ziel!« Dann verfiel er wieder in seine Dieses-Mädchen-hat-mich-in-Grund-und-Boden-gerannt-Routine. Er strahlte. »Siehst du? Ich habe dir gesagt, dass du in Boston willkommen sein wirst!« Und so war es. Ich fühlte mich willkommen. Ich kam mir besonders vor, war stolz. Ich wusste etwas, was andere Frauen nicht wussten, und fand mich genial.

      Es war bald zwölf Uhr, und Tom war noch nicht wieder aufgetaucht. Wir mussten noch einen Parkplatz für das Auto suchen und dann zum Start gehen. Plötzlich stürmte Tom in seinem orange-gelben Syracuse-Sweatshirt aus dem Schulgebäude und rannte auf uns zu, boxte dabei in die Luft. »Diese Blödmänner«, sagte er. »Sie wollten mich nicht starten lassen, weil mein Blutdruck zu hoch sei! Natürlich ist mein Blutdruck hoch, ich bin dabei, den Boston Marathon zu laufen, was glauben die denn, diese Arschlöcher! Und ich musste mich setzen und mich beruhigen und sie überzeugen, dass es okay ist, wenn ich laufe, und sie maßen den Blutdruck noch einmal und meinten, es sei allein meine Entscheidung, aber sie würden es nicht empfehlen.« Arnie sagte: »Nun komm schon, komm, wir müssen das Auto parken.« Er fuhr um den Dorfplatz herum zur katholischen Kirche St. John the Evangelist. Offensichtlich war das sein üblicher Parkplatz. Von dort aus waren es zu Fuß zwei Minuten zur Hayden Row zum Start.

      Es war unglaublich, aber zwanzig Minuten vor dem Start beschlossen Tom und Arnie, in der Kirche zu beten. John und ich hoben anklagend die Arme gen Himmel. »Kommt schon, warum habt ihr nicht gestern Abend gebetet, ohne Zeitdruck?«, flehte ich sie an. Ich wollte hinzufügen, dass es nichts bringt, wenn man damit bis zur letzten Minute wartet, aber da ich keine Religionsexpertin war, sagte ich: »Nun kommt schon, ihr könnt auf dem Weg zum Start beten, ihr müsst dazu nicht in die Kirche gehen. Gott hört euch, wo immer ihr seid!« Ich war außer mir, aber es nützte nichts. Ich war nicht katholisch, und natürlich konnte ich nicht beurteilen, ob es mehr bringt, wenn man niederkniet, samt Kreuz und allem. John und ich joggten im Kreis auf dem Parkplatz herum, und ich schwöre, Tom und Arnie blieben eine Ewigkeit weg.

      Als sie wieder draußen waren, plusterte Tom sich auf: »Ich bin so weit. Ich bin voll drauf! Hey, wo ist Bikila. Bikila, ha!« Er spuckte in gespielter Verachtung auf den Boden. (Abebe Bikila war der legendäre Läufer aus Äthiopien, der 1960 barfuß den olympischen Marathon gewonnen hatte und seinen Sieg 1964 wiederholte, diesmal mit Schuhen.)

      »Mein Gott, du hast ja Lippenstift drauf!«, sagte Tom, als wir zum Start joggten.

      »Ich habe immer Lippenstift drauf! Was dagegen?«

      »Irgendjemandem könnte auffallen, dass du ein Mädchen bist, und dich nicht laufen lassen. Wisch ihn ab.«

      »Ich werde meinen Lippenstift nicht abwischen.« In dieser Stimmung kamen wir am Start an. Die wie verkleidet wirkende Läuferhorde fädelte sich in den schmalen Gang ein, der in den von Schneezäunen geschützten Startbereich an der Hayden Row führte. Am Eingang standen BAA-­Funktionäre in langen Mänteln mit blauen Bändern an den Aufschlägen, auf dem Kopf die historischen Filzhüte, Clipboards in den Händen. Alle waren durchnässt, der Schnee sammelte sich auf ihren Hutkrempen und auf den Schultern der Läufer, die sich in dem langen Gang stauten. Das Ganze wirkte ziemlich unorganisiert, und die Funktionäre waren nervös. Sie mussten am Eingang die Startnummern der Läufer mit den Namen auf der Liste vergleichen. Ich hob das dicke Sweatshirt an, damit sie die Startnummer darunter prüfen konnten, und der Funktionär legte mir die Hand auf die Schulter und schob mich sanft weiter: »Beeilung, weiter, weiter!« Wir bahnten uns den Weg zum hinteren Bereich des Startfeldes, und Arnie sagte: »Siehst du? Kein Problem!«

      Die Männer um uns herum waren alle ganz aufgeregt und erfreut, eine Frau in ihrer Mitte zu sehen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte keine Extrabeachtung, vor allem nicht jetzt, in diesem Moment, aber ich versuchte, freundlich zu bleiben, als einer der Läufer darauf bestand, dass seine Frau, die auf der anderen Seite der Begrenzung stand, ein Foto von uns beiden machte. Dann wurde die Menge still, vorn hatte jemand wohl etwas durchgesagt. Wir rückten enger zusammen und der Geruch nach Muskelfluid wurde so stark, dass meine Augen brannten. Ich zog mein schweres Sweatshirt aus und warf es über den Zaun, dann hörte ich den Startschuss, und wir liefen los. Endlich!

      Boston war immer ein Mekka für Läufer gewesen, und nun gehörte ich zu diesen gesalbten Pilgern. Nach monatelangem Training mit Arnie, meinem großen Traum folgend, war ich nun wirklich hier, wir strömten durch die Hauptstraße des Dorfes und dann auf die bergab führende Route 135, zusammen mit Hunderten Gleichgesinnter, die wir alle nicht kannten, die aber alle wussten, worum es ging, und die hart dafür gearbeitet hatten, so weit zu kommen. Mehr als bei irgendeinem Lauf zuvor fühlte ich mich am richtigen Ort.

      Wenn man so langsam anfängt wie wir, sind die ersten paar Meilen ­eines Marathons ein Vergnügen, das Laufen ist leicht, der Lärm der Menge aufregend, und die Mitläufer sind gesprächig und nett. Man weiß, dass es ­irgendwann später schmerzen wird, deswegen kann man jetzt einfach genießen. So wie wir es taten. Unsere kleine Gruppe lief in einer Vierer­reihe, wir scherzten und bedankten uns bei den vielen Läufern, die uns überholten und uns aufmunternd alles Gute wünschten. Arnie und Tom waren in ihrem Element, als sie all die aufmunternden Sprüche hörten, die an uns gerichtet wurden, weil ich dabei war, ein Mädchen! Dadurch wurde ihnen eine bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit zuteil. Tom rannte mit geschwellter Brust, und Arnie plusterte sich auf.

      Dann hörten wir ein lautes Hupen, und jemand schrie: »Platz machen, Läufer, lauft auf der rechten Seite!« Die Menge machte nervös und zum Teil fluchend Platz für einen langen Lastwagen, der von links kam und uns in der engen Straße nach rechts drückte. Dicht dahinter kam ein Bus. Der Laster war für die Pressefotografen, deren auf Podesten aufgebaute Stative auf der Ladefläche standen, damit jeder ein gutes Foto schießen konnte, während sich der Laster langsam in dem Läuferfeld nach vorn schob. Ich fand damals, dass es unglaublich stümperhaft und mies organisiert und sogar gefährlich war, zwischen dicht an dicht laufenden mehr als 700 Teilnehmern die großen Autos fahren zu lassen, besonders in einem international renommierten Rennen wie dem Boston Marathon. Wir liefen ziemlich langsam, aber vorn waren die Weltklasse-Athleten, und es ist ziemlich riskant, hochkonzentrierte Leistungssportler anzuhupen und zu erwarten, dass sie Platz machten. Ich hing diesen Gedanken nach, als ich merkte, dass das Presseauto direkt vor uns langsamer fuhr und wir fotografiert wurden. Die Journalisten gerieten buchstäblich aus dem Häuschen, als sie merkten, dass ein Teilnehmer eine Frau war und Startnummern trug. Ich sah, wie sie in ihrer Starterliste blätterten, meine Nummer und meinen Namen nachschlugen, dann wieder knipsten. Wir mussten alle lachen und winkten. Es war unser »Grüße-an-alle-die-ich-kenne!«-Moment, wie im Fernsehen, wir hatten unseren Spaß.

      Dann stand plötzlich ein Mann in einem langen Mantel, den historischen Filzhut auf dem Kopf, mitten auf der Straße, drohte mir mit dem Zeigefinger und rief etwas. Als ich an ihm vorbeilief, packte er meine Hand, erwischte meinen Handschuh und zog ihn mir ab. Ich kam ein bisschen aus dem Tritt, weil wir ihn alle umkurven mussten. Ich dachte, es sei ein verrückter Zuschauer, aber dann sah ich das blau-goldene Band an seinem Aufschlag. Wo war er plötzlich hergekommen?

      Augenblicke