Kathrine Switzer

Marathon Woman


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erwachsen bin, sehe ich, wie heimtückisch solche Zwänge für ein junges Mädchen sind, und ich verstehe, warum meine Eltern glücklich waren, wenn ich möglichst lange ein Kind blieb.

      Im Bildungsbereich lief es ganz ähnlich. Manchmal reicht das Fassungsvermögen einer Zwölfjährigen noch nicht aus für Abstraktionen, etwa die »Unbekannte« in Algebra (was für eine Unbekannte? Das große Unbekannte im All? Der unbekannte Soldat?) oder die Struktur einer Sprache. Nach meiner ersten Französischstunde geriet ich in Panik, weil ich keine Ahnung hatte, was konjugieren bedeutete. Aber was sollte ich machen? Einen Jahrgang tiefer zu gehen wurde noch nicht einmal erwogen – das war damals eine Schande, und obwohl meine Mutter erkannte, wie sehr ich kämpfen musste, war sie, die Erzieherin, zufrieden, dass ich in diesen fortgeschrittenen Kursen war. Ich konnte nicht sagen: »Das ist zu schwer für mich!« Das wurde einfach nicht akzeptiert, zu Hause gab es nichts, was »zu schwer« war. Man hatte die Pflicht, sich der Herausforderung zu stellen, und sei es, dass man sich ins Auswendiglernen flüchtete.

      Zum Glück hielt unsere Familie fest zusammen, und jeden Abend wurde beim Essen heftig diskutiert. An den Wochenenden arbeiteten wir alle gemeinsam in Haus und Hof, in den Ferien machten wir lange Camping­reisen. Und wir haben unser Leben lang glückliche Ereignisse zusammen gefeiert. So war es nur natürlich, dass ich, als ich anfing, täglich meine Meile zu laufen, von ihnen häufig ein »Toll, Mädchen!« hörte. Das half mir auch wirklich sehr, denn manche Leute, zum Beispiel der Milchmann oder der Postbote, die mich im Hof meine Runden laufen sahen, fragten mich: »Ist bei dir zu Hause alles in Ordnung?« Dann klopften sie an und fragten meine Mutter, ob mit mir alles in Ordnung sei. Meine Freundinnen meinten, ich solle damit aufhören, weil ihre Eltern gesagt hätten, ich würde davon dicke Beine bekommen und einen Schnurrbart. Wir alle gewöhnten uns an die Tatsache, dass ich allen anderen seltsam vorkam, aber zu Hause fand man mich einfach gut.

      Die Meilen bauten sich auf. Jeden Tag. Aus keinem erklärlichen Grund war die eine Meile an einem Tag leicht, an anderen Tagen hatte ich das Gefühl, sie ginge nie zu Ende. Meistens war ich so tief in Gedanken versunken, dass ich ein Stück Kreide mitnahm und an einem Baum einen Strich machte, um mich an die Zahl der Runden zu erinnern. Egal wie schwer es mir vorkam oder wie wenig Lust ich manchmal auf Laufen hatte: Hinterher ging es mir besser. An manchen Tagen brachte das Laufen mich dazu, überhaupt aus dem Haus zu gehen. Das Beste daran war das Ende des Tages, wenn ich das herrliche Gefühl hatte, etwas Messbares und genau Bestimmbares erreicht zu haben. Jeden Tag errang ich einen kleinen Sieg, den mir niemand streitig machen konnte. Das Gefühl kannte ich nicht, wenn ich nicht lief, also versuchte ich, keinen Tag zu versäumen. Langsam verging der Sommer, und ich sah dem kommenden Schuljahr mit neuem Selbstvertrauen entgegen.

      Dann war es Herbst, die Schule fing an, und ich bewarb mich beim Hockey­team. Natürlich war ich nervös; aufmerksam folgte ich jedem Wort der Trainerin Margaret Birch. Etwas ganz Erstaunliches geschah: Da ich nicht ermüdete, nicht aus der Puste geriet und keine schmerzenden Muskeln bekam, eignete ich mir die Fähigkeiten schneller an als die anderen Anfängerinnen. Wenn wir auf dem Platz trainierten, konnte ich schon mit den Schnellsten mithalten. Wow, wie war es dazu gekommen? Als ich es in die Juniorenauswahl schaffte, wurde zu Hause vor Freude laut gejubelt, und ich war das stolzeste Mädchen, das je einen Hockeyrock getragen hat.

      Ich war auch außerordentlich dankbar. Da ich damals nicht ganz verstand, wie körperliche Kondition funktioniert, meinte ich, einen Zauber entdeckt zu haben. Fünfundvierzig Jahre später denke ich noch immer, dass es ein Zauber ist, aber ich greife voraus.

      

      Ich glaube, nie war eine Spielerin stolzer auf ihren Hockeyrock als ich!

      Ich fing an zu glauben, dass ich den Zauber nur behielte, wenn ich weiterhin liefe. Was tatsächlich stimmte. Ich sah das Laufen als meine Geheimwaffe; ich fürchtete, dass die anderen, sollte ich ihnen davon erzählen, mich und meinen Zauber als Spinnerei abtun würden, also behielt ich es für mich. Der Besitz der Geheimwaffe gab mir das Selbstvertrauen, es mit anderen Sportarten zu versuchen. Ich schaffte es auch in das Basketballteam. Dann fand ich heraus, dass die Geheimwaffe auch funktionierte, wenn ich an anderen Aktivitäten teilnehmen wollte, zum Beispiel als Mitglied eines Tanzkomitees oder als Autorin einer Schülerzeitung.

      Die Arbeit für die Schülerzeitung bot sich an, weil es so wenig Berichterstattung über den Mädchensport gab (manche Dinge ändern sich nie), und ich wollte unser Team etwas hochjubeln. Ich liebte mein Team! Manche der Mädchen waren burschikos, andere Abschlussballköniginnen, und ich verlor meine Vorurteile gegen jungenhafte Mädchen. Wir spielten uns alle die Seele aus dem Leib, und trotz der unterschiedlichen sozialen und finanziellen Verhältnisse, aus denen wir stammten, unternahmen wir auch jenseits des Sportplatzes viel miteinander, gingen zusammen zum Tanzen, zu Fußballveranstaltungen oder zu Pyjamapartys und waren unerreichbar für all die stutenbissigen Cliquen der Highschool.

      Meine Freundinnen nannten mich Kathy, aber für meine besten Kumpel war ich Switz. Ich fand, dass Kathy ein bisschen zu unbedeutend als Verfasserin eines Sportartikels klang, aber die Studienberaterin der Fakultät ­erlaubte mir nicht, einfach als Switz zu unterzeichnen, was ich sehr cool gefunden hätte. Aber dank meinem Vater wurde »Kathrine« von den ­Typografen (ja, damals wurde noch mit Lettern gesetzt) immer in ­»Katherine« geändert, und ich ärgerte mich, wenn ich meinen falsch buchstabierten Namen sah. Also unterzeichnete ich oft einfach mit K. V. Switzer. Damals schwelgte ich in der Lektüre von Der Fänger im Roggen. J. D. Salinger war wie ein Gott für mich, und gleich danach kamen T. S. Eliot und E. E. Cummings. K. V. Switzer, die Sportreporterin, zu sein gefiel mir.

      Als mein Freshman-Jahr zu Ende war, hatte ich es satt, ein dünnes kleines Mädchen zu sein. In einer der vielen Illustrierten meiner Mutter, die sich im Haus stapelten, fand ich einen faszinierenden Artikel über den Kaloriengehalt von Nahrungsmitteln. Die beiden Lebensmittel mit den meisten Kalorien waren Erdnussbutter und Schokolade, die man möglichst vormittags essen sollte, um leichter abzunehmen. Das leuchtete mir ein, und deshalb aß ich jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Sandwich mit Erdnussbutter und trank ein großes Glas Kakao. In den nächsten zwölf Monaten nahm ich sieben Kilo zu und wuchs zehn Zentimeter. Ob mir die Erdnussbutter geholfen hat, in die Pubertät zu kommen, oder ob sich das Frausein sowieso anbahnte, werde ich nie erfahren, aber plötzlich war ich eine Frau. Ich werde nie den Gesichtsausdruck meines Vaters vergessen, der mich eines Tages musterte und dann ins Nebenzimmer ging, um sich mit meiner Mutter zu unterhalten. Ich bekam nur einen Teil ihres Gesprächs mit, nämlich seinen Satz: »Heiliger Strohsack, wann ist denn das passiert?«

      Da ich jeden Tag lief, gewöhnte ich mich problemlos an meinen neuen Körper. Tatsächlich schien mir mein neues Gewicht mehr Kraft zu verleihen, und ich fügte Liegestütze und Kniebeugen zu meiner täglichen Routine hinzu. Mein Bruder sagte, die echten Profis würden Kniebeugen auf einem Bein machen, deshalb fing ich an, jeweils zehn Kniebeugen auf ­einem Bein zu üben, und hangelte mich an dem dicken Kletterseil hinauf, das mein Vater im hinteren Teil des Hofs für uns angebracht hatte.

      Obwohl ich mich hingebungsvoll meiner Fitness widmete, war die Leidenschaft doch nicht groß genug, um mir eine Karriere als Leistungssportlerin zu wünschen. Erstens gab es eine derartige Möglichkeit überhaupt nicht, und zweitens sehnte ich mich gar nicht so sehr danach, wie beispielsweise die Tennisspielerin Billie Jean King es tat, die als Kind Profibasketballer werden wollte. Das wäre vielleicht anders gewesen, wenn es damals schon professionelle Läuferinnen gegeben hätte. Davon abgesehen strebte ich einen Beruf an, der meiner Ausbildung entsprach. Als ich aufwuchs, war man noch der Ansicht, dass Leute, die ihren Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit verdienten – und dazu gehörten nun mal Leistungssportler –, bemitleidenswert waren. Denn entweder hatten sie keine gute Ausbildung, oder sie waren nicht intelligent genug, um in leitenden Positionen zu arbeiten. Ich wollte Ausgewogenheit: Der Satz des Römers Juvenal, der vom mens sana in corpore sana sprach, kam mir sehr entgegen.

      Und eine Römerin nahm mich gefangen. Mit großen Augen betrachtete ich die Statue der Jägerin Diana und genoss es, wie mein neuer Körper aussah, wie ich mich in ihm fühlte. Ich verglich mein nacktes Spiegelbild mit ihrer Statue und staunte über die Ähnlichkeit unserer