Kathrine Switzer

Marathon Woman


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neuen Vorbild. Ich fühlte mich in meinem Körper so sicher wie sie sich in ihrem. Und als die Jungen in der Schule jetzt anfingen, mir nachzulaufen, war ich keine leichte Beute. Ich brauchte ihre Aufmerksamkeit für mein Selbstwertgefühl nicht. Obwohl es in der Schule keinen Sexualkundeunterricht gab, vermittelte mir das Laufen körperliches Selbstvertrauen genug, um die kleinen Langweiler auszubremsen.

      Vielleicht klingt es abwegig, dass ich mir eine Göttin der römischen Antike zum Vorbild wählte, tatsächlich aber gab es bis zu den Olympischen Spielen im Jahr 1960 für mich keine modernen sportlichen Vorbilder. Doch trotz der anmutigen Bilder von Wilma Rudolf, der Siegerin in den Sprintwettkämpfen, werde ich nie die abstoßenden Fotos der sowjetischen Kugelstoßerin Tamara Press vergessen, die sie mit Armen wie Schinkenschlegel, einer schwabbeligen Rolle in der Taille und mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht zeigen. War das der Inbegriff einer weiblichen Athletin? Ich kann mir vorstellen, dass solche Bilder viele Tausend Leserinnen der Illustrierten Life entmutigten und junge Mädchen dem Sport für ewig abschwören ließen.

      Damals erfuhr ich es nicht, aber die Olympischen Spiele in Rom boten noch einen weiteren Reibungspunkt für die Wahrnehmung weiblicher Kraft im Sport. Zum ersten Mal seit zweiunddreißig Jahren gab es bei den Spielen einen 800-Meter-Lauf für Frauen. Bei den Spielen in der Antike war Frauen allein schon das Zusehen unter Androhung der Todesstrafe verboten, und im Jahr 1896 wurden sie von der Teilnahme an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit ausgeschlossen. Nach massiven Protesten ließ man Frauen 1900 für die Sportarten Golf, Tennis und Krocket zu. 1928 kam die Leichtathletik hinzu. Längster Lauf war der 800-Meter-Lauf (zwei Runden auf der Bahn), und nachdem sich die ersten drei Frauen eine erbitterte Schlacht um den Sieg geliefert hatten und Lina Radtke einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte, taumelten die Teilnehmerinnen keuchend in den Innenkreis des Stadions, so wie jeder Mensch, der so schnell wie möglich 800 Meter läuft. Diese »Zurschaustellung von Erschöpfung« entsetzte die Zuschauer, die Veranstalter und – das war das Schlimmste – die Medien. Harold Abraham, der Respekt einflößende Olympiasieger, inzwischen Sportjournalist, dessen große Leistungen später in dem Film Die Stunde des Siegers gewürdigt werden sollten, nannte die öffentliche Zurschaustellung von Erschöpfung eine »Schande für die Weiblichkeit« und eine »Gefahr für alle Frauen«. Er empfahl, diese Strecke für künftige Veranstaltungen zu streichen. Und so geschah es.

      In den kommenden zweiunddreißig Jahres mussten Frauen, die längere Distanzen als die Sprintstrecken liefen, immer wieder beweisen, dass sie weder zu schwach noch zu zart dafür waren, weder sich selbst gefährdeten noch der Weiblichkeit Schaden zufügten. Während für die Männer die 1.500 Meter, 3.000 Meter Hürden, 5.000 und 10.000 Meter und der Marathon (26,2 Meilen beziehungsweise 42,195 Kilometer) hinzukamen, wurde jeder längere Lauf für Frauen weiterhin als gefährlich bezeichnet. Es war ein schwerer Kampf, für die Olympiade 1960 die 800 Meter für Frauen durchzusetzen, und jeder Gedanke an eine noch längere Strecke löste eine heftige Kontroverse in den Medien aus.

      Damals wurden viele andere Sportarten für Frauen abgeändert, um sie davor zu bewahren, sich selbst Schaden zuzufügen. Interessanterweise blieb das harte Feldhockey unangetastet, nicht aber Basketball: Schon in den Sechzigerjahren spielten Mädchen eine Basketballversion, die das Laufpensum reduzierte, indem sechs Spielerinnen eingesetzt wurden, die nur dreimal dribbeln und die Mittellinie nicht übertreten durften. Als ich die Trainerin des Mädchenteams für unsere Schülerzeitung interviewte und fragte, ob wir je nach denselben Spielregeln wie die Männer würden spielen dürfen, sagte sie: »Niemals.« Das viele Springen könnte die Gebärmutter verrutschen lassen. Ich hätte fast laut losgelacht. Zehn Jahre später erhielten Mädchen an Universitäten Vollstipendien, um dort in einer der ältesten Universitätssportligen nach »Männerspielregeln« Basketball zu spielen.

      Im zweiten Jahr in der Oberstufe hatte ich einen Freund, Dave, und ich besuchte eine neue Schule, die George C. Marshall High School in Falls Church, Virginia. Mit Dave hatte ich eine gute Zeit. Er war Mittelstürmer in der Footballmannschaft, und da sein Dad den gleichen Offiziersrang in der Navy innehatte wie mein Dad in der Armee, hatten wir viel gemeinsam. Jeden Freitagabend nach dem Footballspiel kamen Dave und sein Freund Larry müde, glücklich, zerschunden und angeschlagen zu mir nach Hause, wir machten uns eine Pizza und besprachen das Spiel. Oft berichtete ich von meinen Erfahrungen beim Hockey oder Basketball, und sie nahmen mich und meinen Sport immer ernst. Wir prahlten damit, wer mehr Liegestütze konnte, aber sie staunten jedes Mal, dass ich mehr Sit-ups und Kniebeugen schaffte als sie. Ich lebte für den alljährlich stattfindenden President’s Council of Physical Fitness and Sports Fitness, wo auch getestet wurde, wie viele Sit-ups wir in der Minute schafften (ich schlug Dave und Larry mit dreiundsechzig in der Minute) und wie schnell wir auf der 600-Yards-Strecke (548,64 Meter) waren. Ich war das schnellste Mädchen, aber nicht so schnell wie Dave und Larry, was mich ärgerte. Eines Abends provozierte ich sie mit der Frage, bis zu welcher Grenze sie Kraftanstrengungen bei Frauen akzeptieren würden. Sie taten sich schwer mit der Definition, aber schließlich einigten sie sich darauf, dass sie es nicht mochten, wenn Frauen trainierten, bis ihr T-Shirt am Rücken durchgeschwitzt war. Ich nahm das ohne ein Gefühl von Zustimmung oder Ablehnung auf, ich behielt es lediglich als eine interessante Beobachtung im Gedächtnis. Ich selbst schwitzte nicht sehr beim Sport. Noch nicht.

      Am Ende meines letzten Schuljahres waren Dave und ich fest zusammen, wir waren verliebt, tauschten Klassenringe aus, versprachen uns alles Mögliche und machten Pläne für die Hochzeit nach dem Studium. Diese Zwangsläufigkeit finde ich heute unvorstellbar, schließlich entwarfen wir diesen Lebensplan bereits mit sechzehn. Dave wollte Marineoffizier werden, und sein Ehrgeiz in der Highschool war, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und zunächst in die U. S. Marineakademie von Annapolis einzutreten. Als Dave dort im Frühling angenommen wurde, jubelten wir. Er trat eine Woche nach seinem Schulabschluss die Ausbildung an, und ich war seltsamerweise glücklich, eine Zeit lang wieder allein zu sein.

      Meine Eltern hatten die Universität von Illinois abgeschlossen, und ich hatte den Ehrgeiz, ebenfalls eine große Universität zu besuchen. In Anbetracht der Tatsache, dass meine Mutter eine fortschrittliche und beliebte Leiterin der Studienberatung der größten Highschool unseres Countys war, hätte man annehmen können, dass ich Insidertipps für die passende Auswahl eines College bekam, aber der Plan für mich lautete anders. Dad bevorzugte aus finanziellen Gründen ein College in unserem Heimatstaat Virginia und riet mir, an einem College mit Koedukation zu studieren. Frauenuniversitäten waren in seinen Augen wirklichkeitsfremd. Es ist mir peinlich zuzugeben, dass ich ihm damals zustimmte. Kaum zu glauben, dass es zu jener Zeit in Virginia nur zwei Colleges mit Koedukation gab – William and Mary, die mich mit meinen mittelmäßigen SAT-Noten nicht aufnehmen würden, und Lynchburg College, eine Schule, kleiner als meine Highschool! Ich wollte an eine große Universität wie die von Michigan! Heimlich bewarb ich mich dort und wurde abgelehnt. Ich hätte sie trotzdem besuchen können, aber der Bewerbungsprozess schüchterte mich ein. Dad wusste von meiner Enttäuschung, und wie üblich schlug er mir einen Kompromiss vor: Da er die Ausbildung in den ersten beiden Jahren bezahlte, würde er die Auswahl treffen, und er entschied sich für Lynchburg. Für die darauffolgenden zwei Jahre könnte ich entscheiden, ob ich wechseln wollte. Ich willigte ein, zumal es in Lynchburg ein Frauenhockeyteam gab. Es schien ein bisschen pervers zu sein, dass große Universitäten keinen Frauensport boten, wohl aber die kleinen Colleges. Ich sagte mir, dass ich mich auf mein neues Team vorbereiten müsse, und verlängerte meine Laufstrecke. Wenn mich eine Meile täglich ins Highschoolteam gebracht hatte, müsste ich zulegen, um es ins Collegeteam zu schaffen. Ich erfuhr, dass die Jungen im Crosslaufteam der Highschool drei Meilen täglich liefen. Ich kannte bis jetzt niemanden, der noch mehr lief, also steckte ich mir das Ziel, drei Meilen täglich zu laufen. Wenn ich das schaffte, würde meine Geheimwaffe zur Superwaffe werden.

      Jeden Abend ging ich nach meinem Sommerjob auf die Bahn in der Highschool und lief meine Runden, jede Woche lief ich eine Runde mehr. Ich staunte, wie leicht mir das fiel, und wahrscheinlich hätte ich die drei Meilen auf Anhieb geschafft. Aber das war mir nicht klar, und ich hielt es für besser, die Laufstrecke vorsichtig zu erhöhen, um eine Verletzung zu vermeiden. Instinktiv tat ich das Richtige: Eine schrittweise Steigerung ist ein Schlüsselprinzip im Training und der Aufbau eines sicheren Fundaments. Ich hatte auch viel Zeit zum Nachdenken, und während eines dieser Hochgefühl-Momente, die während des Laufens eintreten oder