Kathrine Switzer

Marathon Woman


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daran gedacht, Journalismus zu studieren und so meine beiden Leidenschaften zu verbinden. Ende Juli lief ich drei Meilen täglich. Ich war schweißgebadet. Ich fühlte mich wie eine Königin.

      Kapitel 3 »Könnt ihr eine Meile laufen?«

      Ich traf mit einem leichten Groll, aber auch überglücklich, von zu Hause fortzukommen, im Lynchburg College ein. Überrascht entdeckte ich, dass es dort sehr schön war, freundlich, und – ich gebe es ungern zu – es gefiel mir dort fast auf Anhieb. Ich hatte befürchtet, der ganze Campus wäre von unerträglicher Religiosität geprägt, aber es stellte sich heraus, dass nur die Theologiestudenten die Religion forcierten. Der Rest der Schule war erstaunlich ausgewogen, wenn man bedenkt, dass sie mitten in den fundamentalistischen Süden eingebettet war.

      Ein paar der »heiligen« Studenten, die Priester werden wollten, waren aber kleine Teufel! Sie luden Mädchen ins Kino ein und bogen dann stattdessen in eine kleine Landstraße ein und versuchten, dort den Abend zu verbringen. Als mir das zum ersten Mal passierte, blieb ich vor dem Auto auf der Straße stehen und weigerte mich, wieder einzusteigen, bis der Student mir versprach, mich ohne Umweg direkt in mein Studentenwohnheim zurückzubringen. Nach diesem Erlebnis war ich sprachlos, als er mich fragte, ob er mich am nächsten Tag zur Kirche begleiten dürfe, so als sei er die Unschuld in Person!

      Die akademische Atmosphäre in Lynchburg gefiel mir. Sie war anspruchsvoll, aber nicht einschüchternd, und die Seminare waren klein genug, um sich als Individuum fühlen zu können. Da ich überzeugt war, Journalistin werden zu wollen – obwohl mein militärischer Vater Journalisten verabscheute, sie »schwatzende linke Typen« nannte, »die nie dem Feind gegenübergestanden hätten« – , studierte ich zum ersten Mal mit Leib und Seele.

      Begeistert ging ich zur ersten Sitzung meines Englischseminars am College. Ein Tag, den ich nie vergessen werde. Der Professor hieß Charles Barrett, ein leicht skurriler und bezaubernder Mensch. Er trug uns auf, ­einen Essay über eine Kurzgeschichte von Orwell zu schreiben. Dann schmunzelte er und referierte über die Schwierigkeit, einem Essay einen guten Titel zu geben. Ein fabelhafter Titel beinhalte entweder »Schlangen« oder »Sex«. Diese beiden Begriffe würden Leser sofort gefangen nehmen. Noch nie hatte ich im Unterricht von einem Lehrer das Wort »Sex« gehört, und ich fand es herrlich verrucht. Ich arbeitete lange an meinem Essay, unterzeichnete ihn mit K. V. Switzer, und in einem mutigen Moment setzte ich den Titel »SEX« darüber. In der nächsten Woche sagte Dr. Barrett, er wolle einen Essay laut vorlesen, und begann mit »Sex«. Ein kollektives Schnappen nach Luft folgte, und ich duckte mich auf meinem Platz. Dann las er die ganze Arbeit vor, erklärte, warum sie gut sei und er die beste Note gegeben habe. Ich war völlig fertig. Als wir den Seminarraum verließen, sagte ein Mitschüler: »Kannst du dir vorstellen, dass jemand diesen Titel gewählt hat?!« Und ich sagte nur: »Ja. Nein.« Ich belegte schließlich alle Englischkurse von Charles Barrett, ebenso Kurse für Kreatives Schreiben und Journalismus, und bald schrieb ich für die College­zeitung Critograph.

      Das einzig wirklich Enttäuschende am LC war das Niveau der Frauenhockeymannschaft – und dann noch der Südstaatenakzent und die Hüfthalter. Wenn man sich einen Dialekt angewöhnt hat, ist es schwer, ihn wieder loszuwerden, und ich fand, dass Frauen mit diesem langsamen Südstaatenakzent weniger ernst genommen wurden als Frauen ohne Akzent. Vor lauter Angst, mir diese sirupsüße Sprache anzugewöhnen, bemühte ich mich um eine hochgestochene Ausdrucksweise. Ich muss wie eine arrogante Ziege geklungen haben, aber ich glaube wirklich, dass mir das später bei meiner Radio- und Fernseharbeit geholfen hat.

      Die Hüfthalter – anscheinend trugen alle Mädchen diese grässlichen Gummidinger, die sie von der Taille bis zu den Oberschenkeln versiegelten – waren vordergründig dazu da, die Strümpfe oben zu halten und die Hüften schlanker wirken zu lassen, aber auch schmale Mädchen trugen sie. Warum irgendjemand überhaupt ein Kleidungsstück trug, das den Muskeltonus beeinträchtigte und Pinkeln zu einer zehnminütigen Tortur machte, war mir unbegreiflich, bis ich »den Code« begriff. Irgendwann fiel mir auf, dass meine simplen Baumwollstrumpfhalter gerümpfte Nasen und Kopfschütteln bei meinen Mitbewohnerinnen hervorriefen. Denn der dreifach gewirkte Hüfthalter signalisierte, dass man nicht »leicht zu haben« war. Wie sich später zeigen sollte, waren am Ende des ersten Semesters etliche dieser Latexjungfern schwanger, und ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie sie es geschafft haben, diese Dinger auf dem Rücksitz eines Autos auszuziehen und vor der mitternächtlichen Ausgangssperre wieder anzubekommen.

      Ich hatte gehofft, auf stärkere Feldhockeyspielerinnen zu treffen, um meine Technik zu verbessern. Aber wie sich herausstellte, war ich eine der besseren Spielerinnen. Es schmeichelte meinem Ego nicht, es war frustrierend. Als einige Spielerinnen nach einem Sprint außer Atem eine Pause machen mussten, war mir klar, dass wir nie ein erfolgreiches Team sein würden. Und als einige Abwehrspielerinnen darauf bestanden, ihren ­Longline-BH samt Hüfthalter zu tragen, wusste ich, dass es keine Hoffnung gab.

      Das Spielfeld war ein Witz. Es war mit Steinen und Unkrauthügeln und kahlen Stellen übersät, der Ball rollte überall hin, nur nicht in die Richtung, in die er sollte. Ab und an errangen wir dennoch einen Heimsieg, weil niemand sonst auf diesem Feld spielen konnte. Die Mannschaften, die uns besuchten, besonders die aus den schicken Schulen, wie zum Beispiel Hollins, waren daran gewöhnt, auf traumhaften Anlagen zu spielen, die wie Golfplätze waren. Unser Platz brachte sie völlig durcheinander.

      Eines Tages besuchte uns die legendäre Engländerin Constance ­Appleby, die Feldhockey im Jahr 1901 nach Amerika gebracht hatte, und hielt mit uns eine Trainingseinheit in Theorie und Praxis ab. Ich betete sie an und schätzte sie auf ungefähr achtzig Jahre. Man kann sich mein Erstaunen vorstellen, als ich herausfand, dass sie dreiundneunzig war. Sie wirkte nicht im Mindesten gebrechlich, war ziemlich kräftig um die Mitte herum und hatte sich mit einer schokoladenbraunen Tunika und farblich passender Schärpe und Schienbeinschützern angetan.

      Nach einer kurzen Ansprache schockierte uns Miss Appleby, indem sie uns aufs Spielfeld jagte und mit uns spielte. Wir griffen gerade das Tor an, als Miss Appleby nicht weit von mir entfernt über einen großen Maulwurfshügel stolperte und lang hinschlug. Ich rannte zu ihr und schrie: »Oh, Miss Appleby, ist Ihnen etwas passiert? Oh, oh, oh!« O Gott, dachte ich, wir haben Miss Appleby umgebracht, aber als ich ihr aufhelfen wollte, sprang sie auf die Füße, wies mit ausgestrecktem Arm wie ein General auf das Spielfeld und rief mit ihrem unnachahmlichen britischen Akzent: »­Weiterspielen!«

      Von diesem Moment an wusste ich, dass ich Sport machen würde, um mein Leben lang in Form zu bleiben. Miss Appleby war eine fitte, lebhafte alte Schachtel, und so wollte ich im Alter auch sein. Das Problem war nur, dass Frauen keinen Mannschaftssport außerhalb der Universität treiben konnten, es sei denn, man wurde Trainerin und konnte auf diese Weise dabei sein. Ich wollte nicht Trainerin werden, und ich wollte nicht nur dabei sein. Ich wollte eine Sportlerin sein, aber auch mehr als das. Ich wollte einen Beruf haben, einen journalistischen Beruf. Ich wollte sein wie die griechischen Athleten, die auch Philosophen waren: Ich wollte heraus­gefordert werden und an der Herausforderung wachsen.

      Ich hatte dies oft mit mir selbst diskutiert, meistens beim Laufen, was ich weiterhin fast täglich nach dem Hockeytraining machte. Laufen war unglaublich befriedigend, selbst wenn es nur um den Sportplatz herum ging oder hin und wieder in einer großen Schleife um den Campus. Die Strecken hielten sich in Grenzen, sie gaben mir das Gefühl, etwas zu schaffen, und es war eine angenehme Art, die Frustrationen des Trainings mit der Mannschaft abzubauen, bei dem ich kaum außer Atem geriet. Ich fürchtete, mit der Mannschaft meine Form zu verlieren – was für eine Ironie! –, und ich wusste, dass Laufen mich stark und selbstsicher machte, bis ich die Lösung gefunden hatte.

      An einem herrlichen Nachmittag im Herbst spielten wir beim nahen Sweet Briar College. Noch nie hatte ich ein so gepflegtes Spielfeld gesehen, und entsprechend schnell war auch das Spiel. Unsere Mädchen waren nicht in Form, und die Spielerinnen von Sweet Briar hatten uns in der Hand. Unsere Hüfthalter tragende Verteidigerin ließ die Gegnerin vorbei, und lachte dabei auch noch. Da spurtete ich los, um ihre Position einzunehmen, und versuchte, ein Tor zu verhindern. Verärgert, weil ich sowohl ihre Arbeit als auch meine verrichten musste, schrie ich sie an: »Das ist nicht lustig. Renn ihr nach!« Und ich schwöre, sie blieb stehen, stemmte die Hände