Kathrine Switzer

Marathon Woman


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dem Spiel schien niemand in unserem Team etwas dabei zu finden, dass wir verloren hatten. Sie waren begeistert, mit den Sweet-Briar-Mädchen Tee zu trinken. Ich war so wütend, dass ich mich verkrümelte, die sanften Linien der Blue Ridge Mountains betrachtete und mich fragte, warum es für mich nicht nur ein »Spie-hiel« war, warum ich es wichtig fand. Die Trainerin kam zu mir und sagte: »Du verlierst nicht gern, stimmt’s?« Es war viel komplizierter als das, aber ich war nicht gewandt genug, um ihr zu erklären, wie mir zumute war. Ich konnte lediglich sagen: »Nein, ich verliere nicht gern«, aber ich fing immerhin an, mich zu fragen, ob ich das Zeug zur Mannschaftssportlerin hatte. Vielleicht brauchte ich einen individuellen Sport. Dann musste ich nur auf mich selbst wütend sein. In drei Jahren würde ich sowieso keinen Mannschaftssport mehr betreiben können, weil es damals keinen Mannschaftssport für Frauen gab.

      Heute – vierzig Jahre später – träume ich manchmal, dass ich Feld­hockey spiele. Dann habe ich die Schnelligkeit und die Ausdauer, die ich damals hatte, bin aber so erfahren und gewieft wie heute. Meine Mannschafts­kolleginnen und ich arbeiten zusammen, wir bauen brillante Spiele und Spielzüge auf, die ich mir mit achtzehn nie hätte ausdenken können. Dann ­wache ich lachend auf und frage mich, wie anders mein Leben verlaufen wäre, wenn Feldhockey schon damals eine olympische Disziplin gewesen wäre.

      Dave und ich hatten uns darauf geeinigt, im College auch mit anderen auszugehen, aber weiterhin fest zusammenzubleiben. Da er ein Erstsemester in der Marineakademie in Annapolis war, würden wir uns sowieso nur sechsmal im Jahr sehen können, warum sollten wir da nicht auch mit anderen ausgehen? Die wichtigsten Feierlichkeiten im College wurden June Week genannt, sie fanden am Ende des Ausbildungsjahres statt, und in der Akademie wurde jeden Abend getanzt. Meiner Mutter lag es besonders am Herzen, dass ich, ihre Tochter, daran teilnahm. Sie gab, was nicht oft vorkam, ihren weiblichen Fantasien Ausdruck, und ihre Geschenke zu Weihnachten in jenem Jahr bestanden aus Abendkleidern und allgemeinen Accessoires zur Gestaltung der June Week.

      Das erste Weihnachten zu Hause in den Collegeferien war eine Entzauberung für mich, weil Dave sich so verändert hatte beziehungsweise weil die Marineakademie ihn verändert hatte. Er war nicht mehr der fröhliche Junge, den ich gekannt hatte, er kommandierte herum, sagte, ich müsse vom Lynchburg College zum Goucher College wechseln, um näher bei ihm und der Akademie zu sein, es sei egal, wo ich den Abschluss mache, ich würde sowieso nicht zu arbeiten brauchen. Darüber musste ich laut lachen, denn wir hatten unsere Berufswünsche in der Highschool besprochen.

      »Wenn ich Marineoffizier bin, wird meine Frau nicht arbeiten«, eröffnete er mir.

      »Aha«, sagte ich. »Und was soll ich in den sechs Monaten im Jahr machen, in denen du auf See bist?«

      »Meine Mutter hat auch nicht gearbeitet, und sie war glücklich und zufrieden damit, für ein schönes Heim zu sorgen.«

      »Nun, meine Mutter hat immer gearbeitet, und sie ist auch glücklich und zufrieden. Sie verdient ihr eigenes Geld, sie ist anerkannt in ihrem Beruf, und ich habe auch vor zu arbeiten, also mach dich darauf gefasst.«

      Unsere strahlende Beziehung verdüsterte sich. Ich wollte immer noch zur June Week gehen – ich hatte schließlich diese schönen Abendkleider! –, aber ich war aus zwei weiteren Gründen von Dave immer weniger begeistert. Erstens lehnte er es plötzlich ab, dass ich lief, weil es mich in seinen Augen zur Außenseiterin machte. Das sagte er mir auf einer Party, und ich wurde so wütend, dass ich mich ohne ihn auf den sieben Meilen langen Heimweg machte. Es war spät, und ich wusste, dass es dumm von mir war. Als ein Freund im Auto vorbeikam und anbot, mich nach Hause zu fahren, willigte ich ein. Als ich eingestiegen war, merkte ich, dass ich mich geirrt hatte, der Mann war kein Freund, nicht mal ein Bekannter. Während der Fahrt dachte ich, o Gott, das ist sehr gefährlich! An einem Stoppschild sprang ich aus dem Wagen, rannte durch die Vorstadtgärten und versteckte mich unter einer Hecke. Dort lag ich eine Ewigkeit, und der Typ suchte nach mir. Als ich sein Auto wegfahren hörte und wusste, dass ich in Sicherheit war, ging ich zur Party zurück und bat einen Freund, mich nach Hause zu bringen. Dave kam später zu mir, wir stritten uns, weinten beide, und ich schrie ihn an, es sei verflucht gut, eine Läuferin zu sein, sonst hätte ich dem Verfolger nie entkommen können.

      Der zweite Grund war, dass ich in Lynchburg seit dem Spätherbst mit einem Mitstudenten namens Robert Moss ausging, der anders war als alle Jungen, die ich bisher kennengelernt hatte. Seine Mutter war Engländerin, sein Vater Amerikaner. Er war groß und dünn, ruhig und zurückhaltend, hatte einen trockenen Humor, und er war im Besitz eines Regenschirms; all dies waren unamerikanische Züge, die mich faszinierten. Außerdem war er Mitglied der Crosslaufmannschaft, was für mich der Inbegriff der Romantik war. Er war der erste Mensch, dem ich die Geheimnisse meines Herzens offenbarte, auch meinen Wunsch, mich im Sport auszuzeichnen, was ein großes Wagnis war in dieser Ära der Geschlechterstereotypen. Robert hat meine Begeisterung nie abgewertet, nur weil ich ein Mädchen war, und ich hielt seinen erstaunlichen Sinn für Gleichwertigkeit unglücklicherweise für selbstverständlich.

      Im Frühling waren wir dann ineinander verliebt und verbrachten viel freie Zeit, die wir in der Bücherei zum Lesen hätten nutzen sollen, unter einem Busch mit duftenden Blüten und tauschten bis zur Sperrstunde Zärtlichkeiten aus. Da ich die Freundin eines anderen war, schwebten wir in einem romantischen Nebel, wie es zu einer verbotenen Liebe gehört. Ich war verliebt, aber an Dave gebunden, oh, es war aussichtslos, bis Robert vorschlug, Dave sausen zu lassen. Was, und nicht zur June Week zu gehen? Unmöglich! Es war der falsche Vorschlag. Stur nahm ich an der June Week teil, und Robert, der mir vorwarf, ihm ein paar Ballkleider vorgezogen zu haben, weigerte sich ebenso stur, unsere Beziehung danach fortzusetzen. Wir blieben Freunde, aber ich habe Jahre gebraucht, wirklich über ihn hinwegzukommen.

      Achtzehn Monate später, an einem regnerischen Nachmittag, waren die harten Grasflächen des Spielfelds, auf denen ich sonst lief, so matschig, dass ich beschloss, auf der Bahn des Sportplatzes zu laufen. Normalerweise lehnte ich Bahnläufe ab, weil ich es so langweilig fand, im Kreis herumzulaufen, aber auch deshalb, weil an einer Seite die Wohnheime der Jungen lagen. Als ich das letzte Mal dort gelaufen war, hingen ein paar blöde Kerle aus den Fenstern und sangen im Chor »Hüpf, hüpf, hüpf!« Aber an diesem Nachmittag regnete es so stark, dass ich trotzdem beschloss, dort zu laufen.

      In der letzten Zeit hatte ich einige meiner Läufe mit einem schnellen Erstsemester namens Martha Newell absolviert. Marty und ich spielten Hockey zusammen, und dann liefen wir gemeinsam und beschlossen sogar, einer Organisation namens Amateur Athletic Union (AAU) beizutreten, die, wie man uns sagte, 880-Yards-Rennen (804,68 Meter) durchführte, die längste für Frauen erlaubte Distanz. Marty lief die respektable Zeit von 2:23 Minuten und war auch auf den kürzeren Strecken schnell. Meine Bestzeit auf 880 Yards waren 2:34 Minuten, und ich war frustriert, weil ich spürte, dass ich auf diesen kurzen Strecken kaum in Fahrt kam. Wir reisten zu ein paar Wettkämpfen nach Baltimore. Obwohl es sich, wie ich fand, kaum lohnte, irgendwohin zu fahren, nur um zwei Runden um ­einen Sportplatz zu laufen, war ich begeistert von dem Training mit Marty. Das Laufen machte mir so viel Spaß, dass ich mich darauf einstellte, Hockey und Basketball dafür aufzugeben. Laufen war etwas, was ich mit einer Freundin oder allein tun konnte, und zwar mein ganzes Leben lang. Dafür brauchte ich weder einen Trainer noch ein Team. Ich hatte eine ­Lösung für mein Dilemma gefunden.

      Ich war mit meinen drei Meilen fast fertig, als ich bemerkte, dass der Bahntrainer der Männer, Aubrey Moon, nach draußen gekommen war und irgendwie einsam in seinem tropfenden Regenanzug am Rand der Bahn stand. Er hielt Stoppuhren in jeder Hand, deren Bändsel zwischen seinen Fingern baumelten. Aber es gab keine Läufer auf der Bahn, deren Zeit er nehmen könnte. Nach meiner letzten Runde rief er mich zu sich.

      »Kannst du eine Meile laufen?« fragte er mich.

      Leicht indigniert sagte ich: »Ich kann drei Meilen laufen.«

      »Das ist gut. Denn ich habe in dieser Saison nur sechzehn Jungen auf der Bahn, und zwei davon sind 2-Meilen-Läufer, Mike Lannon und Jim Tiffany. Wenn du für uns eine Meile läufst, können wir noch mehr Punkte bekommen. Du musst nur ankommen. Mehr nicht.«

      Er hätte auch seinen Cockerspaniel gebeten, wenn er ihn dazu hätte bringen können, vier Runden lang auf der Innenseite der Bahn zu laufen, nur um seine Punkte zu kriegen,