Über dieses Buch
Willi ist ein ganz normaler Junge. Müsste er nicht die häufigen Sticheleien in der Schule ertragen, hätte er mit seinem besten Freund Georg ein beinahe sorgenfreies Leben. Doch mit einem Schlag ändert sich alles. Mit dem Moment, als ein Zwerg in seinem Zimmer steht und ihn in die Zwergenwelt nach Stella Domus mitnehmen will. Dort soll er gegen den Zauberer Hobjark kämpfen, der die Macht über das gesamte Universum erlangen will. Willis unbekümmerte Teenager-Welt gerät völlig aus den Fugen. Mal abgesehen von dem Gefühlschaos, welches Therese bei ihm hinterlassen hat, führt er nun ein kräftezehrendes Doppelleben. Einerseits wird er von gefräßigen Bestien und vermummten Gestalten gejagt, andererseits soll er schön brav seine Hausaufgaben erledigen. Das Amulett, welches er einst von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte, scheint zu alldem der Schlüssel zu sein. Der Schlüssel, den noch ganz andere, finstere Mächte begehren – die Wächter des Amuletts.
Über die Autorin
Sylvia Helene Locke ist ausgebildete Bankbetriebswirtin. Sie lebt mit ihrer Familie in der Oberlausitz und schreibt seit ihrer Kindheit Gedichte und Geschichten. Die Idee, diesen Fantasy-Roman zu veröffentlichen, entstand während ihres Schriftsteller-Studiums an der Cornelia-Goethe-Akademie Frankfurt.
Eine neue Welt
Willi drehte das goldene Amulett nun schon das fünfte Mal vor seinen blauen Augen und tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Was sollte er damit anfangen? Großvater Alfred hatte es ihm kurz vor seinem Tod geschenkt. In seiner Großzügigkeit hatte er Willi schon so manche Aufmerksamkeit zukommen lassen. Sein Zimmer war inzwischen vollgestopft mit unzähligen Spielsachen und Büchern, die ihm sein Großvater im Laufe der Zeit geschenkt hatte. Willis Eltern, Richard und Ella Soter, gaben dagegen nicht viel Geld für Spielsachen aus. Sie sahen es lieber, wenn ihr Sohn ein Buch las, als das er mit der elektrischen Eisenbahn spielte, die auch von seinem Großvater war.
Überhaupt hatte er mit ihm viel Zeit verbracht. Immer wieder blätterte er in den alten Fotoalben und fragte Alfred Löcher in den Bauch. Willi lag dann oft auf dem alten Sofa und hörte sich seine Geschichten an, die er, wie er beteuerte, alle tatsächlich auch erlebt hatte. Sein Großvater sagte damals, dass er das Amulett seinerseits von seinem Großvater bekommen hatte und der wiederum von seinem. Ein echtes Familienerbstück also, dessen wahres Alter man nicht mehr so recht rekonstruieren konnte.
„Es kann dein Leben verändern, pass gut darauf auf!“, sagte sein Großvater damals.
Willi verstand nicht so recht, was er damit meinte, spürte aber dessen Einzigartigkeit, griff wie ferngesteuert danach und steckte es in seine Tasche.
Für längere Zeit hatte er nun schon nicht mehr an das letzte Geschenk seines Großvaters gedacht. Zu groß war die Trauer über dessen plötzlichen Tod. Immer noch nachgrübelnd legte er es zurück in das Schrankfach und kroch schlaftrunken aus seinem Bett.
Heute Morgen schlüpfte er, so gut es ging, in seine Hausschuhe, die mittlerweile viel zu klein waren. Willi war im letzten Jahr regelrecht in die Länge geschossen und seine Füße hatten dabei keine Ausnahme gemacht. Er wirkte nun noch schlaksiger. Seine schmalen Schultern lenkten ein wenig von seinem etwas kantig geratenen Gesicht ab. Besonders auffällig war sein Grübchen auf dem Kinn, was Willi von seinem Vater geerbt hatte.
Nachdem er seine widerspenstigen Füße in den Schuhen verstaut hatte, ging er die knarrende Treppe nach unten. Vom Duft aufgebackener Brötchen beflügelt, übersprang er gleich mehrere Stufen auf einmal und stand putzmunter vor dem Frühstückstisch. Seine Mutter wuselte aufgeregt in der Küche umher und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
„Ich muss gleich weg. Dein Pausenbrot liegt auf dem Küchentisch.“
Das letzte Wort hörte Willi nur noch leise, schon war seine Mutter aus dem Haus. Er schlürfte den heißen Kakao, aß seine Semmel und trödelte noch ein wenig vor sich hin. Seine Schildkröte Trude schaute ihn unzufrieden an, da sie wusste, dass sie nun wieder für die nächsten Stunden allein sein musste. So gemächlich, wie Trude aus ihrem Häuschen kroch, wusch er sich und schlüpfte in seine Sachen. Zum Abschied gab er ihr noch ein Stückchen Apfel, welches sie versöhnlich zu knabbern begann, dann machte er sich auf den Weg zur Schule.
Georg, sein bester Freund, wartete bestimmt schon an der Straßenkreuzung auf ihn. Meist sah ihn Willi schon von Weitem leuchten. Seine Mutter war Schneiderin und hatte einen sehr eigenwilligen Geschmack. Die schrillsten und buntesten Klamotten waren gerade gut genug für Georg. Ganz zu schweigen von den ausgefallenen Schnittmustern mit Seltenheitswert, die Georg nicht nur bewundernde Blicke bescherten.
Verständlicherweise war Georg davon nicht begeistert. Manchmal überlegte er ernsthaft, die Schule zu schwänzen, um nicht ausgelacht zu werden. Doch Willi hatte ihn bislang immer umstimmen können.
Georg war einen Kopf größer als Willi und hatte schwarze Haare, die ihm nicht nur ins Gesicht hingen. Fransig und zottelig reichten sie bis in seinen Nacken. Sein hübsches Gesicht und seine schwarze Hornbrille lenkten aber von seinem ungewöhnlichen Haarschnitt ab. Willi winkte ihm zu und musste sich das Lachen verkneifen. Auch heute hatte dessen Mutter ihrer Phantasie wieder freien Lauf gelassen, dabei aber den aktuellen, gemeinen Modegeschmack um mindestens 80 Kilometer verfehlt.
„Ich wette, bei euch gab’s heute früh ein paar Meinungsverschiedenheiten wegen deiner Garderobe, oder?“, stichelte Willi, als er ihn erreicht hatte.
„Mach dich nur lustig über mein Styling.“
Georg bedachte ihn mit einem halb genervten, halb zornigen Blick.
„Und wer hat gewonnen?“, kicherte Willi und zog an den bauschigen Ärmeln der bunt karierten Jacke.
„Wer schon? Ich natürlich. Die Jacke habe ich mir selbst ausgesucht. Ist zurzeit echt angesagt, dieser Paradiesvogel-Look“, brummte Georg und verdrehte die Augen.
„Ach komm, lass dich nicht runterziehen. Für mich bist und bleibst du mein bestgekleideter Freund auf der Welt.“
„Huh, ich bin ja auch dein einziger Freund, oder? Klar, sicher bin ich das“, sagte Georg schon wieder gut gelaunt.
Sie schlenderten gemächlich zur Schule und tauschten dabei die neuesten Fußballsticker aus.
Als er an diesem Nachmittag nach Hause kam, war Willi schlecht gelaunt und aufgekratzt. Grund waren natürlich nicht seine doch ganz passablen Zensuren, und auch der schwere Rucksack, den er kaum tragen konnte, war nicht schuld daran, sondern wegen Babbel steckte er in einem Stimmungstief. Babbel war ein dicker, großer, graublonder Schwachkopf aus der Parallelklasse, der es fertiggebracht hatte, noch drei weitere Hohlköpfe um sich zu scharen. Diese vier Chaoten ließen ungern einen geeigneten Moment aus, um Willi zu ärgern. Heute hatten sie ihn in der großen Pause in seinen Spind sperren wollen. Nur mit viel Gegenwehr und ein paar blauen Flecken mehr konnte er sich befreien. Leider hatte seine Hose nun einen klaffenden Dreiangel, weshalb seine Mutter bestimmt wieder nachfragen und Ärger machen würde.
Da auch sein bester Freund Georg ihn nicht aufheitern konnte, beschloss er, nach der letzten Stunde gleich nach Hause zu gehen. Erschöpft und sauertöpfisch schmiss er sich auf sein Bett. Da er eher zierlich war, konnte er so richtig Anlauf nehmen, ohne das Möbelstück zu beschädigen, obwohl es ihm heute egal gewesen wäre, wenn die Bettpfosten zerborsten wären. Direkt neben seinem Bett stand sein Nachttischschrank, dem er selten Beachtung schenkte – abgesehen davon, dass er seinen Wecker und seine Nachttischlampe beheimatete. Heute aber bahnte sich durch seine Ritzen plötzlich ein Lichtschein.
Willi dachte zuerst, seine Sinne täuschten ihn. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich näher zu seinem Schrank hin. Als er mit dem Kopf kurz vor der Schublade war, riss er das Fach auf. Erschrocken fiel er rücklings auf sein Bett zurück. Was er erblickt hatte, ließ ihn derart erstaunen, dass er eine Weile mit offenem Mund in das noch aufgezogene Fach starrte. Es war das Amulett seines Großvaters, das dort so leuchtete.
Plötzlich hörte er ein eigenartiges Flüstern. Willi traute sich nicht, es in die Hand zu nehmen, geschweige denn es an sein Ohr zu halten. Er wollte das Fach schon mit dem Fuß zuschieben und sich einreden,