Frank Witzel

Revolution und Heimarbeit


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Leiber. Man hatte wenig Zeit und wollte auf Nummer sicher gehen. Der Zug wartete. Zuschütten war unnötig, obwohl immer noch Schreie aus der Grube kamen. Die Schreie hielten auch noch eine Weile an. Nicht nur während der Viehwaggon mit den Militärs am Horizont verschwand, sondern auch noch die ganze Nacht und den nächsten Vormittag. Dann war es ruhig. Alle waren verreckt. Fast alle. Man glaubt es nicht, aber zwölf haben es tatsächlich geschafft. Die lagen wahrscheinlich irgendwo günstig in einer Lücke unter einem Haufen anderer. Zwölf Männer. Zwölf von 3000. Mit letzter Kraft wühlten die sich zwischen den Leichen heraus und taumelten in Richtung ihrer zerstörten Dörfer.

      Das alles hat Tannys Mutter erst später erfahren. Das war zu der Zeit, als sie auch die Nachricht bekam, daß ihre kleine Schwester mit einer dieser niedlichen roten Bomben, die unsere Jungens abgeworfen haben und die wie Gummibälle aussehen, in die Luft geflogen ist. Willkommen in Amerika. Denn dort war Tannys Mutter mit ihrem kleinen Baby inzwischen angelangt. Der chinesische Ingenieur war nämlich in der Heimat verheiratet. Natürlich glücklich verheiratet. Mit einem kleinen Sohn. Damals fingen die in China gerade an, alle möglichen idiotischen Verordnungen zu erlassen, um den Leuten das Leben auch privat möglichst schwer zu machen. Spät heiraten und höchstens ein Kind, sonst bekommt der ganze Ort den Geldhahn zugedreht. Kein Wunder, daß schon bald die Dorftümpel voll mit Kinderleichen lagen. Viele Familien legten das Neugeborene einfach in eine dunkle Abstellkammer und sahen nur einmal morgens nach, ob es schon verreckt war. Außerdem war Tanny ein Mädchen. Reismaden nennt man die Mädchen in China. Und wehe dem Neugeborenen fehlt der Zipfel, dann wird die Geburt schnell zur Trauerfeier. Bei einem Jungen tanzen sie rum und jagen Böller in die Luft.

      Tanny sagt manchmal: Eine zweite Frau, das wäre vielleicht gegangen, aber kein zweites Kind. Sie ist einfach sauer auf ihren Vater. Was ich verstehen kann. Immerhin war er wenigstens noch so fair, seine Beziehungen spielen zu lassen, sonst säße Tanny mit ihrer Mutter jetzt in Thailand. Und da kann man sich an zehn Fingern abzählen, welchem Job Tanny dort nachgehen würde.

      Stattdessen steckt sie seit sieben Monaten in einem roten Flanellkostüm und macht in einer bescheuerten Fernsehsendung für Kleinstkinder mit. Auch nicht gerade das Gelbe, aber um einiges besser, als sich in Unterwäsche vor fetten Touristen an einem Laternenpfahl zu reiben. Aber wie es eben immer so geht, kaum läuft es mal etwas ruhiger, schon taucht dieser scheinheilige Wichser auf, greift sie aus der Menge raus und stellt sie nach guter alter amerikanischer Tradition an den Pranger. Wenn man sich das vorstellt: die reine Willkür. Einfach mal jemanden kurz den Löwen zum Fraß vorwerfen. Dieser Typ, der hätte sich damals pudelwohl gefühlt in Kambodscha. Nach Lust und Laune Leute über die Klinge springen lassen, während man sich noch nicht mal die Finger dabei schmutzig macht. Wirklich gelungen. Am Abend steckt er sich dann eine Havanna ins Gesicht und freut sich darüber, wieder mal ein paar Existenzen vernichtet zu haben. Und mit was für einer schwachsinnigen Argumentation. Das muß man sich mal vorstellen. Da behauptet er doch tatsächlich, Tanny würde in ihrem roten Kostümchen und unter der Maske mit den abstehenden Ohren und den Glubschaugen fluchen und die Unschuldigsten der Unschuldigen und Kleinsten der Kleinen verderben. Von seinem eigenen Gefluche und Gespucke kriegt dieser aufgeblasene Apostel wohl nichts mit. Aber das ist noch nicht mal das Schlimmste. Das ist doch immer so. Selbst das größte Schwein sein, aber sich bei anderen wegen jedem Dreck aufregen. Nur, warum fragt er, verdammt noch mal, nicht nach, bevor er irgendwelche Behauptungen in die Welt setzt? Warum nimmt er nicht sein verdammtes Goldtelefon und ruft auf seiner Superdirektleitung einen der Fernsehbosse an, um zu erfahren, ob ihm da nicht vielleicht gerade irgendeine Kleinigkeit entgeht?

      Da sitzen garantiert genug Hampelmänner rum, die regelmäßig ein paar Dollar für seine Kirche abdrücken und sich dafür ne üppige Spendenquittung ausstellen lassen. Alles überhaupt kein Problem für unseren Gardinenprediger. Ein Dutzend Sekretärinnen wartet nur drauf, irgend so einen bescheuerten Anruf für ihn zu erledigen. Da lecken sie sich ihre lackierten Finger nach. Schon allein, um ihren Muttis zu erklären, was sie so den ganzen Tag machen, außer das Eingemachte in durchsichtigen Hemdchen rumzuschwenken. Wie gesagt, alles kein Problem. Nicht wie unsereiner, der nie zu irgendwem durchkommt. Weder mit der Antwort auf eine Hundert-Dollar-Frage, noch mit der Meinung zu der letzten Autobahnschießerei, geschweige denn mit einer Anregung zum Programm. Kritik kennen die ohnehin nicht. Für die ist alles Anregung.

      Ich finde das absoluten Bockmist, was ihr da verzapft!

      Danke für die Anregung.

      So wird das gehandhabt. Da sitzen Leute, die werden in wochenlangen Seminaren nur auf so etwas geeicht. Nicht ausrasten, immer freundlich bleiben. Egal was für ein Hirnamputierter gerade am anderen Ende der Leitung ist. Immer dran denken, daß eine Diskussion zu nichts führt. Der Anrufer ist der König. Wenn man ihm dumm kommt oder gar widerspricht, steht er am Ende noch mit einer Keule in der Hand auf dem Parkplatz vor dem Sender. Also ruhig durchatmen und noch nicht mal einen ironischen Unterton in der Stimme mitschwingen lassen.

      Nichts für mich. Ich habe das nicht mal drei Tage ausgehalten. Und dabei war das alles nur Spiel. Training. Trockenübung. Da hing einer von uns an der anderen Leitung. Nein, Spaß hat mir das nur gemacht, wenn ich an die Reihe kam, um den zornigen Anrufer zu spielen. Aber auch dann nicht so richtig. Denn die anderen blieben ruhig, während ich mehr und mehr ausrastete. Am liebsten wäre ich um den Bretterverschlag außen rum und hätte ihnen eine mitten in die Fresse plaziert. Ich mag es einfach nicht, wenn sich Leute verstellen. Und wann hat man schon mal die Gelegenheit, das auch direkt zu zeigen?

      Unser geistlicher Vater, der Tanny in die Pfanne hauen will, besteht nur aus Verstellung. Der ist so in seinem Lügengeflecht eingesponnen, daß er sich garantiert selbst nicht mehr darin zurechtfindet. Und weil es ihm längst über den Kopf gewachsen ist, stellt er sich hin, schreit Zeter und Mordio und beschwört das jüngste Gericht herauf. Das soll uns dann von ihm und seinen dreckigen Lügen befreien. Natürlich findet das alles erst in der fernen Zukunft statt, wenn er endlich genug Geld zusammen hat, um sich in einem atombombensicheren Bunker zu verschanzen, damit ihm die Idioten, denen er das Gesparte aus den Rippen geleiert hat, nicht auf den Pelz rücken können, wenn sie endlich dahinter kommen, auf was für eine Type sie reingefallen sind.

      Bis dahin muß er seine Kröten zusammenhalten und kann noch nicht einmal ein paar lumpige Cent für einen gottverdammten Anruf investieren. Dabei hätte sogar die Fernsehstation die Kosten übernommen. Keine Frage. Schließlich ist Gott höchstpersönlich am Apparat.

      Oh Gott! Oh Gott! Warten Sie noch einen winzigen Augenblick, bevor wir Sie durchstellen, ich muß mich erst hinknien. Und schon hätte er erfahren, daß Tanny in ihrem roten Kostümchen nicht flucht, wie er behauptet, sondern einfach nur ab und zu ein paar Worte auf Khmer sagt, das ist alles.

      Außerdem war diese Idee noch nicht einmal auf ihrem eigenen Mist gewachsen, wie man sich bei so einer Sendung ja wohl vorstellen kann. Da kannst du überhaupt nichts selbst bestimmen. Keine einzige Bewegung. Kein Wort. Noch nicht mal dein Deo darfst du selbst auswählen. Da fragt man sich, warum sie es überhaupt mit Menschen in Kostümen machen und nicht gleich mit Puppen. Wahrscheinlich weil Menschen am Ende doch noch ein Stück billiger kommen. Da brauchst du die ganzen komplizierten elektronischen Apparate nicht, die den Kopf zum Wackeln bringen. Obwohl das Gehalt schon in Ordnung war. Wir fingen an, uns ein paar Sachen außer der Reihe zu leisten, und Tanny holte ihre Mutter aus dem Drecksloch und kaufte ihr einen automatisch verstellbaren Fernsehsessel.

      Man hätte nur ein Wort zu Tanny sagen müssen, sofort hätte sie aufgehört, irgendwas auf Khmer zu sagen. Sie hätte sich irgendeine Phantasiesprache ausgedacht oder den Text gesprochen, den man ihr gegeben hätte. Aber nein. Keiner fragt nach. Unser Ogottogott mit seinem Rüschenhemd nicht, und die in der geschlossenen Anstalt auch nicht. Gehört bestimmt zur Firmenpolitik. Wie heißt es so schön: Don’t ask – don’t tell. Oder es steckt was ganz anderes dahinter. So ein Prediger, der ist auch nicht auf den Kopf gefallen. Auch wenn er jeden Abend so tut. Der geht mit seinen Schweißfingern einfach eine Liste der Firmen, Fernsehanstalten oder berühmten Köpfe durch, die zur Zeit gerade mal ein bißchen Erfolg haben und eine Menge Kohle machen. Dann pickt er sich einen heraus und behauptet irgendwas. Es ist immer am besten, erst einmal irgendwas zu behaupten. Wenn man was behauptet, entsteht sofort Unruhe, und wenn Unruhe entsteht, dann kann man leichter abkassieren. Man trifft sich in der Chefetage oder nach