Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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      Titel

      Wimmer Wilkenloh

      Hätschelkind

      Der erste Fall für Jan Swensen

      Impressum

      Personen und Handlung sind frei erfunden.

      Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

      sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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      Alle Rechte vorbehalten

      4. Auflage 2008

      Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

      Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

      Unter Verwendung eines Fotos von photocase.com

      Gesetzt aus der 9,2/12,4 Punkt GV Garamond

      ISBN 978-3-8392-3158-6

      Bibliografische Information

      der Deutschen Bibliothek

      Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

      Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

      detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

      über http://dnb.ddb.de abrufbar.

      Zitat

      »Das dauert mir zu lange«, sagte Häwelmann; »ich will in den Himmel fahren; alle Sterne sollen mich fahren sehen.«

      »Junge«, sagte der gute alte Mond, hast du noch nicht genug?«

      »Nein«, schrie Häwelmann, »mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!« und dann blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete, und so fuhren sie zum Walde hinaus, und dann über die Heide bis ans Ende der Welt, und dann grade in den Himmel hinein. Hier war es lustig; alle Sterne waren wach, und hatten die Augen auf, und funkelten, dass der ganze Himmel blitzte.

      »Platz da!« schrie Häwelmann und fuhr dann in den hellen Haufen hinein, dass die Sterne rechts und links vor Angst vom Himmel fielen.

      »Junge«, sagte der alte gute Mond, »hast du noch nicht genug?«

      »Nein«, schrie Häwelmann, »mehr, mehr!« und hast du nicht gesehen! fuhr er dem alten guten Mond grade über die Nase, dass er ganz dunkelbraun im Gesicht wurde.

      Theodor Storm: Der kleine Häwelmann

      1

      Leichter Nebel schwebt über dem festen Schlickboden und hüllt das Watt in einen milchigen Dunst. Ein Mann stapft auf die Sandbank hinaus, die jedes Mal bei Ebbe hier auftaucht. Der Wind treibt feinen Dünensand von der Küste wie weißen Rauch über die feuchtglänzenden Rippeln und lässt ihn im diesigen Nichts verschwinden.

      Da vorn ist die Welt zu Ende, denkt er. Ich brauche nur noch geradeaus weiterzugehen und komme direkt von der Erde in den Himmel.

      Er ist der einzige Mensch weit und breit. Die unendliche Weite dehnt sich respekteinflößend vor ihm aus. Er empfindet ein klammes Gefühl im Magen und versucht es mit dem Verstand beiseite zu schieben.

      Ein unheimlicher Ort, wenn man sich hier so weit draußen allein herumtreibt. Im Grunde sollte man Ehrfurcht vor dieser rauen Natur verspüren, die einen ohne Vorwarnung verschlingen und dann einfach irgendwo im All wieder ausspeien könnte.

      In der Ferne kann er die Silhouette des Leuchtturms von Westerhever erahnen. Er merkt wie die feuchte Luft unter seine Kleidung kriecht, atmet tief durch und blickt hinter sich. St. Peter-Ording ist von hier aus nicht mehr zu erkennen. Dafür faszinieren ihn das unwirkliche Licht und die filigranen Muster, die vom Wellenschlag und der Gezeitenströmung in den silbergrauen Schlick gezeichnet wurden. Ein faszinierendes Motiv. Er greift zum Fotoapparat. Von rechts dringt kurzes spitzes Kreischen an sein Ohr. In zirka zwanzig Meter Entfernung hat sich eine größere Schar Möwen angesammelt. Mit ihren Schnäbeln hacken die Vögel wütend aufeinander ein. Automatisch nimmt er seine Kamera ans Auge.

      Der Fotograf steckt einem einfach in den Knochen, denkt er amüsiert.

      Vorsichtig nähert er sich dem Knäuel. Da verstummt das Geschrei. Mit dem zirrenden Geräusch hunderter Flügel hebt sich ein weißer Vorhang in den Himmel. Jetzt ist der Blick frei. Er spürt wie in diesem Augenblick das Blut in seinem Kopf zu pulsieren beginnt. Das Bild im Sucher seiner Kamera verschwimmt vor seinen Augen. Ihm wird schwindelig. Die Knie sacken auf den nassen Schlickboden. Krampfhaft klammert er sich an seine Nikon. Ungläubig hebt er den Kopf und starrt auf die Sandverwehung vor sich, aus der ein blutverschmiertes Gesicht mit zwei leeren Augenhöhlen herausguckt. An den blauen Lippen kleben Reste eines knallroten Lippenstifts. In der Nase steckt ein glitzernder Stein. Er wendet den Blick ab. Sein Atem geht schwer und er friert. Das Meer verharrt bewegungslos, obwohl das Rauschen der Wellen in seinen Ohren dröhnt. Dann erwacht er urplötzlich aus seiner Erstarrung. Angst springt ihn an.

      Oh Gott!

      Sein Kopf ist nicht mehr leer. Die Gedanken stürzen auf ihn ein.

      Eine tote Frau!

      Seine Augen tasten das nähere Umfeld ab. In zirka fünf Meter Entfernung zeichnen sich, trotz der Verwehungen, Reifenspuren eines Wendemanövers ab. Von dort zieht sich eine Schleifspur bis hier zum Fundort.

      Der Wagen ist also rechts vom Land gekommen, denkt er. Das heißt, er ist bestimmt in St. Peter-Ording auf die Sandbank gefahren.

      Der Priel, der hier den geraden Weg zum Festland versperrt, ist ziemlich tief und endet erst an den Pfahlbauten mit den Restaurants, die vor St. Peters Küste im Watt stehen. Dort liegt der von den Umweltschützern umstrittene Autostrand und dort gibt es auch eine Deichüberfahrt. Er wendet seinen Blick ab. Wieder liegt der Leichnam vor ihm. Panik erfasst ihn.

      Bloß keine Polizei schießt es ihm durch den Kopf. Was mach’ ich nur, was mach’ ich nur?

      Gleichzeitig bemerkt er, wie silberne Wasserzungen den Schlickboden entlang kriechen, Rippel für Rippel überwinden und unaufhaltsam auf die Frau vor seinen Füßen zueilen. Es ist Flut.

      In zwanzig Minuten ist hier Land unter!

      Er atmet mehrmals tief durch. Dann greift er seine Kamera, die ihm am Ledergurt um den Hals hängt. Während er die Leiche umkreist, drückt er ununterbrochen auf den Auslöser. Erst als der Transport blockiert, erwacht er aus einer Art Trance. Der Film ist voll.

      Scheiße! Das muss ja auch unbedingt mir passieren!

      Das Wasser hat den toten Körper erreicht. Ohne darüber nachzudenken, ganz mechanisch, nimmt er den vollen Film aus der Kamera und legt einen neuen ein, den er immer lose in der Hosentasche dabei hat. Dann sucht er nach einer deutlichen Reifenspur und schießt davon noch einige Bilder aus verschiedenen Richtungen. Erneut spürt der Mann eine Gänsehaut in seinem Nacken aufsteigen.

      Ruckartig wendet er sich von dem grausigen Ort ab. Der Nebel hat sich aufgelöst. Er will so schnell wie möglich ans Festland und watet auf dem direkten Weg in den Priel. Doch in der Mitte läuft ihm das Wasser oben in die Gummistiefel und, obwohl er auf Zehenspitzen weitergeht, hat er sofort nasse Füße. Am anderen Ufer hetzt er in ausladenden Schritten auf den grauen Strich Küste zu, der in der Ferne die Richtung angibt. Mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch liegt vor ihm. Bei jedem Schritt quatscht das Wasser in und der Wattschlick unter seinen Stiefeln. Er zieht sich die Wollmütze ins Gesicht