Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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im Norden.

      Kurz vor der angestrahlten Backsteinkirche mit dem winzigen, spitzen Türmchen biegt er nach rechts ab und hält vor Anna Dietes Reetdachhäuschen. Aber trotz seines mehrmaligen Klingelns und Klopfens meldet Anna sich nicht. Verwirrt tritt er die Rückfahrt an.

      Gegen 22:18 Uhr lässt er sich daheim auf das Sofa sinken. Sein Körper erscheint ihm wie abgespalten, als bestehe seine Existenz nur in seinem Kopf. Er hat das Gefühl sich mal wieder richtig gehen lassen zu müssen, seine Kontrolle abwerfen zu wollen. Sein Alltag hat etwas Blutarmes angenommen. Diese starren Rituale, morgens Meditieren, abends Meditieren, vegetarisch ernähren, grünen Tee trinken. Wo ist die Lust am Leben geblieben?

      Swensen treibt es in die Küche. Er hat eine schwache Erinnerung, dass noch eine Flasche Rotwein da sein muss. Zielsicher öffnet er die rechte Tür des Küchenschranks. Da steht er, ein griechischer Samos. Bye, bye, formlose Leere.

      Er dreht vorsichtig den Korkenzieher ein, zieht mit einem sanften Plopp den Korken heraus, riecht an der Unterseite wie an einer alten Erinnerung und schenkt das Glas viertel voll. Dann nippt er kurz daran. Der fast ölige Wein legt ihm eine süße Schwere auf die Zunge. Er geht beschwingt ins Wohnzimmer zurück und hockt sich wieder auf das Sofa.

      Sein Blick fällt auf die Uhr, 22:29 Uhr. Er drückt auf die Fernbedienung. Der Bildschirm leuchtet auf. 22:29:57, 22:29:58, 22:29:59. Fanfare, Stimme. Hier ist das Erste mit den Tagesthemen. Ulrich Wickert. Guten Abend meine Damen und Herren. Der erste Beitrag. In Amerika versuchen Wahlhelfer gestanzte Löcher auf Wahlzetteln zu lesen.

      Swensen lehnt sich zurück. Teilnahmslos lässt er die Bilderflut an seinem Bewusstsein vorbeiziehen. Erst eine Polizeikette, die einen Wald durchstreift, erregt wieder seine Aufmerksamkeit.

      Mehrere Hundertschaften der Polizei durchsuchen die Umgegend des Wohnorts von Beatrix, kommentiert die Sprecherstimme. Die Beamten sind schon seit Tagen im Einsatz.

      Ein Kampfjet donnert durchs Bild.

      Die Bundeswehr setzt jetzt Tornados mit Wärmekameras ein.

      Mit einem Mal sind Weinseligkeit und buddhistische Weisheit wie weggeblasen. Auf dem Sofa sitzt Hauptkommissar Jan Swensen. Er muss über sich lächeln und merkt sofort, dass seine Reaktion nur seine Bestürzung überspielen soll. Ertappt.

      Klassischer Fall von Verdrängung, denkt er und spürt einen garstigen Druck im Magen, obwohl er mehrmals tief durchatmet. Das Fahndungsfoto der kleinen Beatrix, das gerade im Beitrag gezeigt wurde, steht ihm weiterhin vor Augen. Eine unheilvolle Ahnung lähmt ihn. Da ist es wieder, sein altes Trauma. Bis eben war er fest überzeugt, er hätte es ein für alle Mal überwunden. Wie durch einen Nebel sieht er zwei Gestalten, die sich einen Weg durch das Gestrüpp einer Parkanlage bahnen. Die erste Gestalt ist Hauptkommissar Karl Begier und die zweite ist er selbst.

      Es sah damals aus wie einer der normalen Einsätze, die er seit acht Dienstjahren bei der Mordkommission Hamburg West abgerissen hatte. Alle verfügbaren Schutz- und Kriminalpolizisten vor Ort. Zwei Leichen im Sternschanzenpark. Begier bog das Buschwerk zur Seite und Swensen trat neben ihn. Da lagen sie, zwei tote Knaben, zwischen neun und zwölf Jahren. Der Anblick traf ihn unerwartet, wie eine Keule. Der eine Leichnam lag mit nacktem Oberkörper, an Händen und Füßen gefesselt, auf dem Rücken. Am Hals klaffte eine breite Wunde. Eine verkrustete Blutspur führte über die linke Halsseite bis zum blutig durchtränkten Erdreich. Der Reißverschluss der Jeanshose war heruntergezogen, der Hosenbund geöffnet. Das jüngere Kind lag zirka fünf Meter entfernt, ebenfalls auf dem Rücken. Die blutverschmierte Windjacke war offen, das T-Shirt darunter nach oben geschoben. Der Brust- und Bauchbereich war mit brutalen Stichwunden übersät. »Das ist ja wie auf dem Schlachthof«, meinte Begier. Swensen wurde speiübel. Er stützte sich an einen Baum und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

      In weiter Ferne dringt ein schwaches Surren an sein Ohr. Er taucht durch den Nebel. Das Geräusch wird schrill. Sein Telefon klingelt. Swensen drückt mit der Fernbedienung den Ton des Fernsehers leiser und nimmt den Hörer ab.

      »Swensen!«

      »Hallo Jan!« Swensen erkennt die krächzende Schnupfenstimme von Peter Hollmann am anderen Ende der Leitung.

      »Ich hoffe du bist nicht sauer, dass ich so spät anrufe, aber ich hab den Namen des Fotografen rausgekriegt. Du erinnerst dich noch an unser Gespräch von vorhin. Also, der Mann heißt Wiggenheim, Sylvester von Wiggenheim, und lebt wahrscheinlich in Hamburg, jedenfalls nach der Biographie in meinem Buch.«

      Swensen sieht auf dem Bildschirm, dass in der Zwischenzeit irgendein Krimi angefangen hat.

      »Hallo, Jan! Bis du noch da?«

      »Klar, Peter! Prima! Besten Dank! Schätze, die Adresse kriegen wir morgen schon raus.«

      »Also, dann bis morgen.«

      »Bis morgen!«

      Swensen legt auf und das Telefon klingelt gleich wieder.

      »Ist noch was, Peter?«

      »Hallo Jan, ich bin’s, Anna!«

      »Du, Anna? Oh, – hast du den Blumenstrauß gefunden?«

      »Welchen Blumenstrauß?«

      »Den ich dir an die Tür geklemmt habe.«

      »An die Tür? Du warst bei mir zuhause?«

      »Ja!«

      »Wieso das denn? Ich bin in Rendsburg und halte mein Seminar über ›narzisstische Persönlichkeitsstörungen‹.«

      Swensen schlägt sich mit der Hand an die Stirn.

      »Ach ja, Rendsburg! Hab ich mal wieder total verschwitzt. Dann konntest du ja nicht da sein.«

      »Nein, konnte ich nicht!«

      »Dann rufst du jetzt einfach nur so an?«

      »Das könnte man so sagen. Ich hab allerdings auch ein wenig an unseren ungeklärten Streit gedacht.«

      »Ja, stimmt! War ziemlich blöde, oder?«

      »Ja!«

      »Tut mir leid! Wir sollten morgen unbedingt mal drüber reden.«

      »Ich bin erst am Wochenende zurück.«

      »Gut dann sehen wir uns dann.«

      »Wir werden sehen. Gute Nacht, Jan!«

      »Gute Nacht Anna!«

      Swensen legt auf und fühlt sich mit einem Mal zutiefst allein. Er wird wohl immer ein Eigenbrötler mit Angst vor Nähe bleiben. In der Zwischenzeit ist der ›Tatort‹ auf dem Bildschirm voll im Gange. Gerade verfolgt eine Person eine andere. Swensen erkennt Kommissar Schimanski, der über die Feuertreppe eines Gasometers rennt, und macht den Ton wieder lauter. Schüsse peitschen. Der mutmaßliche Ganove wird getroffen und stürzt über das Geländer in die Tiefe.

      Schwachsinn, denkt er und drückt den Aus-Knopf.

      Er muss wieder an den Kindermord im Sternschanzenpark denken. Das Bild hatte sich damals so in sein Gedächtnis eingebrannt, dass die Angst vor dem nächsten Einsatz ihn fast lähmte. Wochenlang träumte er fast jede Nacht von durchgeschnittenen Hälsen und bleichen Knabenoberkörpern. Mit blutigen Wundlöchern vor Augen schreckte er aus dem Schlaf. Im Dienst fühlte er sich wie betäubt, fast stumpfsinnig. Er mied die Gespräche mit den Kollegen, denn der normale Wortschatz in einer Mordkommission erinnerte ihn immer wieder an die Horrornacht. Und dann kamen mit einem Mal noch diese ›Flashbacks‹ dazu. Sie trafen ihn aus heiterem Himmel, in jeder erdenklichen Situation, zum Beispiel beim Nachtisch in der Polizeikantine. Die Leichen der Knaben lagen urplötzlich real vor seinen Füßen. Er brauchte nur die Hand ausstrecken um ihr Blut zu berühren.

      Wenn er heute an diese Albtraumzeit zurückdenkt, wird ihm klar, dass er schon damals dieser Eigenbrötler war. Er vereinsamte zusehends in der Gruppe. Sobald seine Kollegen ihn darauf ansprachen, bezeichnete er sich als einen Individualisten. Und als Individualist wollte er die Sache natürlich unbedingt selber in den Griff bekommen.

      Eines