Wimmer Wilkenloh

Hätschelkind


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zurück.

      So, das Thema ist endgültig abgehakt, denkt er, nimmt eine Getränkedose und reißt sie auf. Als er sie gerade an den Mund setzen will, fällt sein Blick auf die Titelseite der Zeitung.

      Mädchen bleibt verschwunden. Trotz intensiver Suche der Flensburger Polizei gibt es weiterhin kein Lebenszeichen von der kleinen Beatrix aus Glücksburg.

      Ich werde nie begreifen, wer so was fertig bringt! Wie kann man sich nur an einem kleinen Mädchen vergreifen, denkt er, als wenn jemand in seinem Kopf einen Hebel umgelegt hat.

      Solche Menschen sind doch krank. Der wusste 100%ig, was er gemacht hat.

      Aufgebracht schlägt er die Zeitungsseiten um. Er freut sich über seine Wut, sie erzeugt ein gutes Gefühl im Bauch.

      Was ist meine Tat gegen so etwas Abscheuliches. Ich bin da schließlich nur wegen ein paar fehlender Kröten reingeschlittert. Und überhaupt ist das Ganze sowieso nicht zu vergleichen!

      Da werden seine Gedanken jäh gestoppt. Gerade hat er den Lokalteil der Zeitung aufgeschlagen. Knallhart springt ihm seine Realität ins Auge. Ein Bild von Edda.

      Wer kennt diese Frau? Für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an die Husumer Kriminalpolizei.

      Woher haben die ein Bild von Edda, schießt es ihm durch den Kopf. Wieso steht da nichts von einer Leiche? Wenn sie ein Bild haben, müssen sie doch eine Leiche haben!

      Fragen, die auf ihn einstürmen, aufdringlich und beklemmend zugleich. Doch so sehr er auch nachdenkt, logische Antworten bleiben ihm verborgen. Hilflos trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte. Seine Schläfen schmerzen. Er fühlt ein zentnerschweres Gewicht auf seinen Schultern. Alles, was er sich zurechtgelegt hatte, kann er ab sofort vergessen. Ihm ist klar: er muss unbedingt handeln. Wenn er nicht in Kürze die Polizei informiert, wird man über kurz oder lang rauskriegen, dass Edda bei ihm angestellt ist. Dann tauchen sie auf und werden ihm sehr unangenehme Fragen stellen.

      Also, los! Angriff war noch immer die beste Verteidigung!

      Er nimmt sein Handy und wählt die Nummer der Husumer Kriminalpolizei.

      * * *

      Kurz hinter der Post kommt erst der Bertelsmann Bücherclub und dann der Fotoladen Adolf Dallmann. Im Vorbeigehen bleibt Swensens Blick am Schaufenster hängen. Die großen gerahmten Hochzeitsbilder waren noch in wärmeren Zeiten entstanden, wahrscheinlich im hiesigen Schlosspark. Swensen muss unwillkürlich grinsen. Auf dem Farbfoto unten rechts hat die Braut sich in ihrem weißen Samt ausladend ins Gras gehockt und der Bräutigam steht in Siegerpose hinter ihr wie ein Großwildjäger, der mit seiner erlegten Trophäe abgelichtet wird.

      Das Bild macht ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er merkt, dass seine Abneigung gegen das Heiraten und die Ehe für ihn immer noch ein Thema zu sein scheint. Frauen in Brautkleidern haben für ihn etwas zutiefst bürgerliches, etwas wovon er sich sein Leben lang beharrlich abgrenzen wollte. Doch das Hochzeitsfoto, das ahnt er, ist nicht der Auslöser für sein mulmiges Gefühl. Es erinnert ihn nur an den gestrigen Abend, an dem Anna seine Hand nahm, ihn mit großen Augen ansah und fragte, ob er sich vorstellen könne mit in ihr Haus einzuziehen. Er hatte die Hand fast reflexartig zurückgezogen. Die Frage kam ihm vor wie ein Skalpell, das brutal in seinen gewohnten Alltag eindringen wollte, in seinen morgendlichen Blick aus dem Fenster, in seinen plötzlichen Drang ein Saxofonsolo von Branford Marsalis zu hören, in seinen meditativen Zustand von innerer Leere.

      Es geht um meine Freiheit, hatte er gedacht und gleichzeitig flüsterte ihm die Stimme seines Meisters zu: Alles was du festhältst, wird dein Leben verwirren. Und da war es, das kleine Ich, das Ich des Jan Swensen. Es rebellierte, bäumte sich auf. Er saß da, verwirrt und unfähig auf Anna einzugehen. Sie fing an zu weinen. Auch seine beruhigenden Worte halfen nichts mehr, ihr Gesicht versteinerte.

      »Typisch männliche Angst vor Nähe!«, sagte sie mit harter Stimme und schmiss ihn raus.

      Swensen öffnet die Ladentür und tritt an den Tresen.

      »Moin, Moin, ich hab eine Frage. Kann man bei Ihnen noch Schwarz-Weiß-Fotos machen lassen?«

      Er grinst die junge Brünette an und merkt sofort, dass seine Frage nicht gerade präzise ausgefallen ist.

      »Natürlich! Was brauchen Sie? Passbilder oder soll es ein Porträt sein?«

      »Keins von beiden. ’Schuldigung, Jan Swensen von der Kripo Husum. Ich möchte nur wissen, ob jemand in ihrem Laden vor zirka ein oder zwei Wochen Schwarz-Weiß-Abzüge in Auftrag gegeben hat.«

      »Die Leute machen heutzutage nur Farbbilder. Ich kann mich nicht erinnern, dass hier jemals einer Schwarz-Weiß-Abzüge haben wollte.«

      »Gilt das nur für sie oder gibt es noch andere Verkäuferinnen?«

      »Ich kann kurz den Chef rufen, der muss das auf alle Fälle wissen. Herr Dallmann, kommen Sie bitte!«

      Ein kleiner glatzköpfiger Kopf taucht hinter einem Vorhang auf.

      »Ich hab ihre Frage hier hinten schon mitgehört. Schwarz-Weiß-Abzüge macht in Husum keiner mehr.«

      »Danke, das war’s schon.«

      Als Swensen gerade den Laden verlässt, macht sich sein Handy bemerkbar. Er drückt sich an eine Hauswand und hält sich mit der linken Hand das Ohr zu. Diese verbogene Körperhaltung kommt ihm bei anderen immer albern vor.

      Der Mensch in der Digitalen, denkt er und meldet sich gleichzeitig. »Hier Swensen!«

      »Mielke! Halt dich fest, Jan. Ich hab gerade mit einem gewissen Hajo Peters gesprochen. Der hat das Bild von unserer Frau in der Husumer Rundschau gesehen, und sie erkannt. Es soll eine Mitarbeiterin von ihm sein, mit Namen Edda Herbst. Sie wohnt in der Deichstraße 22.«

      »Schick’ sofort das gesamte Team raus!«

      »Ist schon veranlasst! Der Typ führt eine Videothek in der Süderstraße, und ist da jetzt auch zu erreichen.«

      »Okay! Ich bin in der Nähe. Ich geh’ sofort mal rüber und sprech’ mit ihm und komm danach gleich in die Deichstraße. Bis dann!«

      Swensen drückt die Taste mit dem roten Hörer und nimmt wieder Normalhaltung an. Er überlegt einen Moment und geht dann noch mal zurück in den Fotoladen.

      »Ich sehe gerade im Fenster, Sie verkaufen auch Handys. Ist es möglich die Melodie gegen ein normales Klingeln auszutauschen?«

      »Klar! Sie gehen einfach ins Menü, und dann …!«

      »Menü?«, unterbricht Swensen.

      »Geben Sie mal her!«

      Die Brünette nimmt ihm das Handy aus der Hand. Ihr rechter Zeigefinger drückt in einem rasanten Tempo auf unzählige Knöpfe. Es piept ein paar Mal und Swensen hat sein Gerät wieder. Er lächelt verlegen.

      »Dankeschön!«

      * * *

      Von der Süderstraße bis zur Deichstraße sind es zirka 15 Minuten zu Fuß. Auf dem Weg dorthin holt Swensen sich im Fischhaus Loof ein Krabbenbrötchen, die Besten in Husum, sagt man. Er sieht sich zwar als Vegetarier, aber bei Krabben drückt er öfter beide Augen zu. Weil mal wieder eine Touristenschar alle Tische belegt hat, lehnt er sich vor dem Laden an die Hauswand. Hier ist es windstill. Die Sonne wärmt sogar ein wenig. Gegenüber steht das neue Fischrestaurant, das direkt neben das Hafenbecken gesetzt wurde. Der futuristische Glaskasten stört sein ästhetisches Empfinden. Für ihn ist diese gewollt moderne Architektur eher hässlich und banal. Vor der Eingangstür kämpft eine kleine Gruppe Frauen und Kinder mit einem Schwarm Möwen. Eine große Lachmöwe versucht das Fischbrötchen eines kleinen Mädchens im Sturzflug zu erbeuten. Der mächtige signalgelbe Schnabel verfehlt den Leckerbissen nur knapp. Das Kind lässt das Brötchen erschreckt zu Boden fallen und brüllt. Sofort balgt sich die restliche Vogelhorde mit wilden Flügelschlägen darum. Die Lachmöwe kreist im großen Bogen über der Straße und landet unmittelbar neben Swensen auf einer Plastikmülltonne.