F. John-Ferrer

Der vergessene Bunker


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      Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind daher rein zufällig.

      Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014

      ©2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

      www.rosenheimer.com

      Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

      Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 101I-004-3634-33 /

      Fotograf: Richard Muck

      eISBN 978-3-475-54280-0 (epub)

      Der Gebirgsjäger Lorenz stand mit einem halben Dutzend Essenholern unter dem weit überhängenden Dach des morschen Holzschuppens und erwartete fröstelnd die Ausgabe des Mittagessens. Die Landser in den verschlissenen Uniformen lungerten mit verdrossenen Gesichtern um die ein klein wenig Wärme spendende Feldküche herum; sie redeten kaum miteinander und schauten missvergnügt in den Regentag hinaus. Ein kalter Wind blies, und der Regen war bereits mit dem ersten Schnee vermischt. Schräg trieb er über die verschlammte Straße hinweg, kräuselte hässliche Pfützen und fuhr ins Gebälk des alten Holzschuppens, unter dem die rußgeschwärzte Feldküche stand. Es gab heute wieder die übliche Graupensuppe, die der Küchengefreite noch einmal umrührte, abschmeckte, um dann lässig zu winken:

      »Auf geht’s! Porzellan fertigmachen, meine Herrschaften!«

      Kochgeschirre klapperten, und der Gefreite Lorenz, Melder im 1. Zug, Gruppe Teichmann, entzurrte gemächlich den Deckel des tragbaren Kanisters und machte sich zum Empfang der grauweißlich brodelnden Brühe bereit.

      Es war ein trostloser, verregneter und nasskalter Herbsttag, der 20. September 1944, kurz vor mittags. Die militärische Lage in Karelien war ebenso lichtarm wie der Tag und freudlos wie die unrasierten Gesichter der um die Feldküche drängelnden Landser.

      Die Bombe, die am 20. Juni im Führerhauptquartier krepiert war und die ihr zugedachte Aufgabe nur in ungenügender Weise erfüllt hatte, änderte das Schicksal derer, die in dem finnischen Grenzdorf Laksa lagen, ebenso wenig wie das der restlichen in einem allgemeinen Rückzug befindlichen deutschen Phalanx im Osten. Längst war die Wehrmacht zurückgedrängt worden bis ins Kurland, bis über den San und die Weichsel, bis tief ins südliche Polen hinein. Der Rote Koloss walzte unerbittlich weiter und drängte auf die Entscheidung, die Westalliierten standen bereits in der Normandie, die Rumänen hatten aufgegeben, und die Finnen am 19. September in Moskau den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet. Der Sommer war gestorben, und mit ihm die letzte Hoffnung auf eine Wende im deutschen Kriegsgeschehen.

      Der Küchengefreite Emil Gschrei klatschte die Graupenschläge ohne zu zählen in die Kochgeschirre und Kanister.

      »Meine Herren, wenn Gschrei sich nicht irrt, geht’s bald ab. Vorhin ist der Bataillonsmelder eingetrudelt!«

      Lorenz war gerade dabei, den Deckel des Kanisters zu verriegeln, als jenes scheußliche Geräusch ertönte, das alle kannten, das wie das Jammern eines hungrigen Kindes klingt und in der nächsten Sekunde mit einem Bersten endete.

      Emil Gschrei sprang vom Trittbrett der Feldküche und flog in »Volle Deckung«. Die anderen ebenfalls.

      Huuuuuuiiiii … rrrrreng!

      Die russische Granate krepierte mitten auf der Dorfstraße und riss eine Dreckfontäne hoch. Etwas klirrte gegen die Feldküche, und aus dem Riss im Kessel quoll die Graupensuppe in einem faustgroßen Strahl. Es stank nach Pulver und Schwefel, und die Dreckfontäne auf der morastigen Straße sank in sich zusammen.

      »Mensch, unser Fressen läuft aus!«, schrie jemand.

      Flüche wurden laut, Emil Gschrei erwischte ein schmutziges Handtuch und pferchte es in den Kesselriss, um die Graupensuppe zurückzuhalten.

      »Wenn der Bettelmann Pech hat«, murmelte er, »verliert er das Brot aus dem Sack. Verdammter Mist!«

      Lorenz grinste.

      »Habt ihr vielleicht gedacht, der Krieg ist aus, weil die Finnen nicht mehr mitmachen? Nee, sag ich – der Krieg geht flott weiter, und wenn wir nicht bald abhauen, dann …«

      »Schnauze!«, sagte Lorenz’ Nebenmann. »Wir hauen nicht ab, wir bleiben hier, bis der Iwan uns kassiert.«

      Lorenz grinste noch immer, noch breiter.

      »Was würdest du dazu sagen, Franz?«

      Der lange Obergefreite zuckte gleichmütig die Schultern. »Mir ist die Heimat zu weit weg und der Iwan zu nah dran.«

      »Richtung Norden ist aber noch frei.«

      Der Obergefreite mit dem mageren Gesicht und dem bläulichen Stoppelbart unter dem nach hinten geschobenen Stahlhelm schnäuzte sich mit den Fingern und erwiderte dann: »’s müsste bald sein, sonst ist der Bart restlos ab.«

      Emil Gschrei stand wieder auf dem Trittbrett. »Los, es geht weiter, meine Herren! Her die Tassen! Der Küchenchef des Hauses wünscht allseits recht guten Appetit! Zehn Schläge für die Herren der Gruppe Hochreiter! Mahlzeit!«

      Lorenz schulterte seinen Kanister, hängte sich den Karabiner um den Hals und trat aus dem Holzschuppen auf die Straße.

      Weit hinter dem Wald, aus dem die Regennässe dampfte, wummerte das feindliche Geschützfeuer. Der Gefreite schnupperte misstrauisch in die Luft. Laksa, das noch auf sowjetischem Boden liegende Dorf nahe der Grenze, bestand nur aus acht niedrigen, strohgedeckten Holzkaten und ein paar Schuppen. Die Bewohner hatten auf ihrer Flucht nicht viel zurückgelassen. In einer der Holzkaten, deren Strohdach schon beträchtlich zerfleddert war, hauste der Kompaniestab der »Dritten«, und sie diente auch als Gefechtsstand. Zu Gefechten kam es aber nicht. Die 3. Kompanie lag mit ihren vier bedenklich zusammengeschmolzenen Zügen längs des Waldes in Stellung und beschränkte sich darauf, gegen Südwesten abzusichern und die schmale nach Laksa führende und zwölf Kilometer nördlich endende Grenzstraße für den Rückzug freizuhalten.

      Die Sowjets schossen regelmäßig herüber; es war kaum mehr als ein Störfeuer und bezweckte wahrscheinlich nur, die Reste eines zerpflückten Gebirgsjäger-Bataillons endgültig über die Grenze zu jagen und seinem weiteren Schicksal zu überlassen.

      Das Bataillon hatte bei Wiborg gekämpft und schmerzliche Verluste erlitten. Wiborg befand sich schon seit Juni in den Händen der Sowjets, am 28. Juni wurde Petrosadowsk besetzt. Längs der russischfinnischen Grenze schwiegen schon seit dem 4. September die Waffen.

      Die 3. Gebirgsjäger-Kompanie hatte sich etappenweise bis dicht vor die alte Landesgrenze von 1940 zurückgezogen, wobei es Oberleutnant Rambach mehr darauf ankam, weitere Opfer zu vermeiden und den Rückzug möglichst geordnet durchzuführen.

      Bis auf das russische Störfeuer waren die letzten Tage ruhig verlaufen. Hier in Laksa, wo sich Füchse und Hasen gute Nacht sagten, wo der Wald ringsum nach welkendem Laub und moderndem Holz roch, wartete man die weiteren Befehle der Division ab. Es konnten nur noch Rückmarschbefehle sein. Niemand beklagte sich mehr, alle dachten an den Weg nach Norden, an das Ende dieses aussichtslos gewordenen Kampfes.

      Der Gefreite Lorenz wollte noch in die Schreibstube schauen, um nachzufragen, ob es etwas Neues gebe, ob vielleicht ein Postsack eingetroffen sei, ein Brief, ein Päckchen aus der Heimat.

      Vor dem Blockhaus lehnte das schlammbespritzte Krad des Bataillonsmelders. Man hatte ein paar Bretter vor den Hauseingang gelegt, sie waren glitschig und voller Schlamm. Lorenz stolperte in das Haus.

      Als er den Gefechtsstand betrat, schlug ihm der Mief von nassen Kleidern, Brot und Machorka ins Gesicht. Trübes Licht erhellte dürftig den niedrigen Raum. Längs der Wände war Stroh aufgeschüttet, in dem ein paar Gestalten lagen, rauchten oder miteinander sprachen. Drei winzige Fensterlöcher ohne Scheiben ließen das graue Tageslicht