Franz Taut

Standgericht


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      Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht der geschichtlichen Wahrheit. Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten sind daher rein zufällig.

      Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2014

      ©2014 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

      www.rosenheimer.com

      Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

      Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 101I-301-1951-07A / Fotograf: Kurth

      eISBN 978-3-475-54279-4 (epub)

      Im Ganzen waren sie vier Mann, darunter ein Feldwebel, und es geschah im September 1944 in einem belgischen Dorf westlich von Aachen.

      »Alles Märchen«, sagte der Obergefreite mit dem Kopfverband und zeichnete mit dem Zeigefinger ein großes »S« in den schwarzgrauen Staub, in dem er saß. Er hatte kein Koppel mehr. Sie alle hatten keine Koppel, keine Waffen, keine Gasmasken, und nur drei von ihnen besaßen Kochgeschirre.

      »Märchen«, wiederholte der Obergefreite und malte hinter das »S« ein kleines »c«. »Das haben sie sich nur ausgedacht, damit man uns leichter erwischt. Konserven. Schokolade. Weißbrot. Zigaretten. Butter. Whisky. Dass ich nicht lache!« Wütend schrieb er hinter das »c« ein »h«. »Nicht mal Wasser will er uns geben.«

      Der Feldwebel sah auf den schmutzigen Zeigefinger des Obergefreiten und wartete auf das »e« nach dem »h«. Er wusste genau, was der Obergefreite schreiben wollte. Nach dem »e« musste ein »i« kommen und so weiter, bis das meistgebrauchte Soldatenwort im Staub geschrieben stand. Aber der Obergefreite wischte mit einer schnellen, ärgerlichen Bewegung das »Sch« aus und sah empor zu dem amerikanichen Posten.

      »So’n Kerl!«, sagte er. »Schaut ihn bloß mal an: Wie im Kino!«

      »Shut up!«, knurrte der Posten und spuckte durch die Zähne. Er war lang, schlaksig, der Stahlhelm saß ihm tief im Genick, sein Gesicht war hager, verstaubt, sehr dunkel und sehr müde. Mit ausgestreckten Beinen saß er auf einem wackligen Stuhl, den er irgendwo aufgetrieben hatte, balancierte auf dessen Hinterbeinen, die Lehne gegen die brandschwarze Mauer des zerschossenen Hauses gestützt, und aus dem Mundwinkel hing ihm eine Zigarette.

      »Schwarz wie die im Kino – er müsste bloß noch nackt sein.«

      »Und bemalt«, sagte der Feldwebel.

      Er hieß Helmut Klingler, war 24 Jahre alt, man konnte ihn aber auch auf 30 schätzen. Das Alter war in jenen Tagen einem Mann nicht genau anzusehen. Er hatte ein mageres, verhärtetes Gesicht, seine Augen waren enttäuscht und gehetzt, und er konnte immer noch nicht begreifen, wie er hierhergekommen war. Ein Gefangener! Prisoner of War auf Englisch, wie er sich aus seiner Schulzeit dunkel erinnerte.

      »He!«, sagte er hinauf zum Posten, aber dieser rührte sich nicht, und der Feldwebel sagte wieder: »He, du!« Und nach einer Weile setzte er auf Englisch hinzu: »Wasser! Brot! Durstig! Hungrig!« Und wieder deutsch: »Verstehst du?«

      Als Feldwebel fühlte er sich auch in der Gefangenschaft für die anderen verantwortlich, obwohl er keinen von ihnen kannte. Und dem Obergefreiten mit dem Streifschuss über dem rechten Ohr ging es nicht gut.

      Der Schwarze warf die Zigarette weg und zertrat sie mit dem Absatz.

      Der Obergefreite sah gierig auf die zertretene Kippe. »Mensch, jetzt ’ne Zigarette!«

      »Sag’s ihm doch«, sagte ein Unteroffizier, ein dicker Mann mit einem rosigen Gesicht.

      »He, du! «, sagte der Feldwebel zum dritten Mal, jetzt lauter.

      Der Posten sah ihn an, seine Augen waren schwarz, abwesend und müde. Sie fielen ihm fast zu, und der Feldwebel zeigte auf den verwundeten Obergefreiten: »Er krank. Kopf kaputt, verstehen? Wasser. Er muss sterben, wenn kein Wasser! Verstehen?«

      »Shut up!«, sagte der Posten und schloss die Augen.

      »Dem ist das ganz wurscht«, sagte der Obergefreite bitter. »Krepieren oder nicht … aber den Gefallen tu ich ihm nicht!«

      »Nix sprecken!«, sagte der Posten mit geschlossenen Augen.

      »Deutsch kann er auch noch«, knurrte der Unteroffizier grinsend.

      »Gleich schläft er ein!«, stellte der Obergefreite fest.

      »Er ist halt müde«, sagte der Unteroffizier gutmütig.

      »Und unser Leutnant hat erzählt, zehn Amerikaner hauen ab, wenn einer von uns daherkommt«, sagte ein Gefreiter mit einer runden Nickelbrille spöttisch.

      »Shut up, damned … Krauts!«, fluchte der Posten, räkelte sich, gähnte und blinzelte in die untergehende Sonne. Dann sah er die Straße hinab, die durch das belgische Dorf führte. Er wartete auf den Lastwagen, der die Deutschen weiter nach hinten bringen sollte. Aber nur ein paar Zivilisten waren zu sehen, die sich auf der Straße herumdrückten. Manche von ihnen trugen Armbinden, Gewehre oder Maschinenpistolen. Die Taschen ihrer Jacken waren ausgebeult von Handgranaten und Munition. Partisanen!

      Der Feldwebel dachte: Wenn er … vielleicht … wenn er einschläft, dann könnte ich …

      Dieser Gedanke war so scharf und deutlich, dass er ihm fast weh tat. Er duckte sich zusammen. Wenn er einschläft … wenn er die Augen zumacht …

      Die Sonne stand rot wie eine riesengroße Orange über einem Kamm schwarzer Fichten. Warum kam keiner und brachte sie weg? Ein magerer Hund schnüffelte in einer ausgebrannten Ruine. Kalter Brandgeruch mischte sich mit dem Geruch nach Staub und mit dem süßen Kleeduft einer abgemähten Wiese. Auf der Wiese lag eine verendete Kuh, aufgedunsen, die Beine hochgereckt. Ein Zivilist rief auf Französisch etwas zu ihnen herüber, hob drohend die Maschinenpistole und verschwand dann in einem Haus.

      »Die möchten uns am liebsten auffressen«, sagte der Obergefreite. »Und der da würde nicht mal den Finger krumm machen zu unserem Schutz!«

      Der Feldwebel spann den Gedanken weiter: Wenn er einschläft … er braucht nicht mal richtig einzuschlafen.

      Dabei sah er auf die Trommelrevolver des Postens, deren Kolben beiderseits des Stuhles aus dem festen, olivgrünen Gewebe heraussahen. Er brauchte nur … nur eine Waffe, und dann weg, dachte er.

      Der Posten zündete sich eine neue Zigarette an. Alle verfolgten mit gieriger Aufmerksamkeit seine Bewegungen – alle, außer dem Gefreiten mit der runden Nickelbrille. Er sah Klingler an, dessen Blick zu den Revolvern er bemerkt und wohl richtig gedeutet hatte.

      »Machen Sie bloß keine Dummheiten, Feldwebel!«, murmelte er so, dass nur Klingler ihn hören konnte.

      Der Feldwebel fuhr zusammen.

      »Endlich ist es uns gelungen«, sprach der Gefreite nach einer Weile leise weiter, »in Gefangenschaft zu kommen, ohne dass wir uns ins Gesicht spucken müssen. Verstehen Sie? Für uns ist der Krieg aus. Machen Sie bloß keinen Unsinn!«

      Klingler sah den Gefreiten an – ein bleiches, helles und entschlossenes Gesicht in der Dämmerung vor der rauchschwarzen Mauer.

      Er sagte: »Gedankenleser, was? Reif für den Zirkus?«

      Es sollte ironisch klingen, aber seine Stimme zitterte.

      »Ich spreche für uns alle«, sagte der Gefreite ernst. »Wir sind nicht übergelaufen. Wir wollen nicht mehr.«

      »Du sprichst aber nur für dich selbst«, sagte der Obergefreite.

      Der Posten drehte sein mageres, von den Strapazen der vergangenen Wochen gezeichnetes Gesicht zu ihnen. »Nix sprechen!«, sagte er schläfrig und ohne Nachdruck.

      Schäbiger Hund, dachte der Feldwebel und sah den Gefreiten an. Sicher gehörte er zu denen, die Männern wie ihm, dem Feldwebel, auf dem langen Rückzug durch Frankreich »Kriegsverlängerer« nachgerufen hatten.