Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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vorüberfliegender widersprüchlicher Tendenzen, die den Eindruck eines unablässig ablaufenden Fernsehprogramms erwecken. Der scheinbar offene RaumRaum wird desillusioniert. Das Karussell der Wahrnehmungen unterstreicht die KreisbewegungKreisbewegung. In Rebus werfen sich die Figuren Begriffe wie bunte Bälle zu. Sie reden ohne klares Verständnis von Jesus, Hegel, Marx, der Arbeitslosigkeit und Kapitalanreicherung. Und Literaten, Ideologen, Intellektuelle, Anarchisten, Angestellte, Großunternehmer, Arbeiter, Arbeitslose, Hausfrauen und Prostituierte gehen gleichermaßen an „innerer Fäulnis vor die Hunde.“9

      Beobachtungen des Erzählers werden von kurz aufblitzenden Kindheitserinnerungen und Gedanken an vergangene historische Ereignisse unterbrochen. Die Orte, zeitnah und zugleich zeitlos, spiegeln historische Prozesse, technische Entwicklungen und den Abbruch der Zivilisation wider. Der Dom, in Einzelheiten des Torbogens und des Chorgestühls als romanisch-fränkischer Bau bestimmt, befindet sich gleichzeitig in Frankreich und in Santiago. Die Bauarbeiten außen dienen gleichermaßen der Restauration und der Neugestaltung, da Spielautomaten im Inneren des Doms den Besuchern Religionsersatz anbieten. Im „Gleisdreieck“ führen die Schienen in eine Behausung, in der Rundgänge, Treppen nach oben und Schlüssellöcher das Blickfeld bestimmen. Die Suche nach oben vermittelt die Hoffnung, Sterne zu sehen und das Ich mit der Welt zu verbinden. Der Versuch, andere zu erkennen, endet immer im Spiegelbild eines Auges. Im Dom sitzen schweigende Spieler vor Automaten; im Hospiz „Hougron“ kreisen alle Gedanken um den Wunsch einer echten menschlichen Begegnung, der unerfüllbar bleibt.

      BeyseBeyse, Jochen gestaltet in Unstern Bericht (1991) die Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung aus der Sicht einer Forscher-Sucher-Detektiv-Figur. Die Figur lebt in einem RaumRaum, in dem sich Flächenmaße ständig verschieben und jede Erfahrung der Zeit – seien es Stunden, Tage, Wochen oder Jahreszeiten – ins Ungewisse verläuft. Scheinwerfer strahlen den Himmel an. Oben kreisen beständig Hubschrauber und Zeppeline. Unaufhaltsam wachsender Schutt bedeckt die Erdoberfläche. Die globale Firma ‚Hochtief‘, die zeitgemäße Entsprechung für Olymp-Hades, organisiert das Leben der Bewohner. Beobachtungen des Universums, die Astronomen und Physiker zu neuen theoretischen Überlegungen anregen, überzeugen dagegen den Erzähler, dass der Kosmos eine unbegrenzte, gigantische Sphäre darstellt, in der sich Energie explosiv und expansiv entlädt. In späteren Äonen ballt sich die Materie zu nicht mehr messbarer Verdichtung. Der Kosmos erweckt den Eindruck eines nicht verständlichen Ungeheuers, das sich ewig verschlingt und neu hervorbringt. Die Welt spiegelt diese Situation. „Was tun Sie beispielsweise, wenn Sie ein ungeheuer großes, doch vollkommen sinnloses Ganzes zu erforschen haben. Nun, Sie machen den Maßstab der Größe zum Maßstab der Sinnlosigkeit und finden so, im gedanklichen Modell, die Richtung in einem Labyrinth, dessen Gänge und Wände Sie niemals werden verlassen können. Es ist der Vorsatz, größer zu sein als das Denken, in dem man sich bewegt, verstehen Sie, diese Art von Gigantismus“.10 Die Figur versucht, das Hochtief auszuloten, protokolliert alle Eindrücke, beobachtet Springer, die unentwegt an einem elastischen Sicherungsseil vom Dach springen, sucht im Tiefbau herum und steigt im Hochhaus nach oben. – „… nach unten, nach oben, erst Sturz, dann Himmelfahrt. Aber kann man unter diesen Umständen von Bewegung sprechen?“ (146). Eine Flut von Reizen stürzt auf den Beobachter ein. Schaufenster zeigen Reklamefilme; die Luftschiffe haben Projektionsflächen. Farbwände, elektronische Leuchtpunkte und Schwärme von Bildern ziehen vorüber. Die Ausmaße werden unberechenbar. Alles kippt gleichzeitig nach innen und außen (160). Plötzlich sitzt der Beobachter am Schreibtisch und starrt „mit verschwimmendem Blick auf x-beliebige Computerbilder“ (132). Die Überfülle der vorüberfliegenden Bilder führt zu Halluzinationen, bedingt jedoch gleichzeitig eine zunehmende innere Leere. Die Figur ruft sich selbst zur distanzierten Einstellung auf, erkennt aber, dass man „blindlings“ den Bildern folgen müsse (165). Die Eindrücke entziehen sich der Deutung; das Führen des Protokolls bestätigt nur, dass der Fall nicht zu lösen ist; ‚Hochtief‘ kontrolliert das gesamte Dasein; alle müssen sich dem vorherbestimmten, deterministischen Geschehen fügen und im Labyrinth verbleiben. Besonders auffallend sind die beständigen Versuche des Beobachters, den vorüberfliegenden Eindrücken in seinem Protokoll feste Form zu geben.

      Diese Konstellation wirkt besonders eindringlich in Ferne Erde (1997). In der Erzählung verfolgt ein Schriftsteller seine Gedanken während einer Nacht allein im Zimmer. Er folgt den Spuren von Ahnungen, Bildern, Erinnerungen und plötzlich auftauchenden Vorstellungen. Die festen Konturen verblassen. Die Analyse schildert den Zustand des Beobachters und entwickelt eine Gegenüberstellung von Erzähler-Ich und Ich. Der Beobachter belauscht sein Sprechen, fixiert den Blick, will alles „klar“ erkennen, untersucht die Bedeutung seiner Gedanken und verfällt in einen Dauerzustand quälender Reflexion. Er will nicht den „Dingen“ entkommen, sondern „ihrer Anziehungskraft“ gehorchen und mit einem tastenden Gefühl“ den „entfernten Schatten ins Dunkel“ folgen.11 Sobald die Schatten feste Formen annehmen – Kopfnicken, Geburtstagwünsche, ein Spiegel, ein Datum, der Rand des Himmels, ein Telefonanruf, ein leerer Bogen Papier, Kopfschmerzen, ein Hotelzimmer –, verblassen sie wieder. Erzähler und Ich suchen verzweifelt eine Sinnstiftung im Dasein, die sich ständig entzieht. „Hellwach wollte ich irgendein Ende, einen Abschluß, der von der Verantwortung befreite, dem Morgen einen Sinn zu geben.“ (101)

      Urs WidmersWidmer, Urs Erzählungen kommt in der thematisierten Wirklichkeitserfahrung und Selbstentwicklung besondere Bedeutung zu, da die vorbildlich geschriebenen Geschichten ein Plädoyer für die kindlich magische Weltsicht enthalten, die die rationale WirklichkeitWirklichkeit trotz konkreter Darstellung verblassen lässt. Die Erzählungen erobern die Phantasie, verklären die Erinnerung und konfrontieren Leser mit der Einsicht, dass Menschen lernen müssen, Widersprüche anzuerkennen. Die Dialoge sind nicht Kampfhandlungen, sondern förderliche Gespräche und Unterhaltungen in einem Kreis von Menschen, die sich wie etwa in Liebesnacht (1982) zusammenfinden.

      Die Erzählung verknüpft in Gesprächen von zwei Jugendfreuden Rückblicke auf die VergangenheitVergangenheit und Schilderungen unterschiedlicher Einstellungen zum Leben mit dem Ausblick auf die Zukunft. Sie thematisiert das Reisen, den Aufbruch ins Unbekannte und die Heimkehr. Das Erzählgerüst stützt sich dementsprechend auf das Kontrastpaar HeimatHeimat / Ferne. Der Erzähler sitzt in seiner Wohnung mit Frau und Kindern. Er schaut aus dem Fenster und sehnt sich „nach Geschichten, die von einer Zukunft sprechen; von einer Gegenwart wenigstens …“12 Das, was er erzählt, scheint zu Eis zu gerinnen. „Diese Endzeit.“ Seine Klage entspringt dem Ungenügen an der Moderne. Alles Alte ist überholt so wie sein Haus, das ursprünglich eine Bahnhofswirtschaft war, die ihre Funktion verlor, als jeder anfing, mit dem eigenen Wagen zu fahren. Seine unbestimmte Erwartung erhält feste Umrisse in seinem Jugendfreud Egon, der am Abend auf das Haus zukommt. Der Besuch, zeitlich auf eine Nacht begrenzt, schafft die Voraussetzung zu Gesprächen, die das vergangene Leben der Freunde umkreisen und ihre Denkart verdeutlichen.

      Beide versuchen, in der Bejahung des Augenblicks dem Dasein Orientierung zu geben. Beide träumen von einer besseren Welt. Der Erzähler gibt seinen Träumen in der Kunst feste Kontur. Sein Freund dagegen wird ruheloser Weltenbummler, der sich in nahen und fernen Ländern, in Frankreich, Griechenland, den Kanarischen Inseln, Argentinien, in Hafenstädten und Dschungeldörfern, ständig verliebt sorglos Kinder zeugt, die er scheinbar innig liebt, die ihn jedoch nicht dazu bewegen können, sesshaft zu werden. Die Erzählungen in der Nacht, an denen sich der Erzähler mit eigenen Geschichten beteiligt, kreisen um wiederkehrenden Aufbruch, Reisen, Sehnsucht und Liebeserfahrungen jeder Art. Die Ekstase im Leben beherrscht den Gesichtskreis: Rausch in intimen Beziehungen, Rausch im Trinken, Rausch im seligen Augenblick. Das Ganze ist ein Versuch, das Entzücken im Dasein einzufangen. „Ganz ohne ein eigenes Glück lässt sich von Glück nicht sprechen. Es gibt welche, die schöpfen nicht aus einem Mangel, sondern aus dem Überfluss.“ (137) WidmerWidmer, Urs gelingt es, diese Fülle auf einen Augenblick zu bannen. Dann steht Egon auf und geht zurück in die Weite.

      Die literarisch anspruchsvollste Erzählung WidmersWidmer, Urs ist Das Paradies des Vergessens (1990). Die Erzählung thematisiert unterschiedliche Aspekte im Entstehen eines literarischen Textes: Phantasie, Entwurf der Hauptfigur, Niederschreiben, Einstellung des Autors zu der von ihm geschaffenen Figur, Nähe und Distanz, Verhältnis zum Verleger, zur Umwelt und zu anderen Autoren. In der Erzählung überschneiden und durchkreuzen sich die fiktive