Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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wusch und in den Spiegel schaute, sah ich, daß ich einen weißen Vollbart hatte. Kraushaare. Und daß mein Gesicht tiefschwarz war.“ (174) Im Altersheim erfährt er, dass seine Abenteuer und MetamorphosenMetamorphose innerhalb einer knappen Woche stattfanden. Die ausgesprochen positive Bejahung der menschlichen Entwicklung in den Widersprüchen des Daseins gibt der Darstellung die Dimension eines faustischen Abenteuers, das in dieser besonderen Form nur von Joseph Conrad und Saul Bellow in Henderson the Rain King (1958) entworfen wurde.

      Wie sieht die Welt vor der bevorstehenden Jahrtausendschwelle aus? WidmerWidmer, Urs geht auf die Frage in einundzwanzig kurzen Geschichten ein. Mehrere in Vor uns die Sintflut (1998) stehen unter dem Vorzeichen der von Ernst Jandl und Kurt Schwitters, Raoul Hausmann, Hugo Ball und Hans Arp in ihrer Lyrik und ihren Geschichten verwerteten kunstvollen Verknüpfung von ZeitkritikZeitkritik, Humor und Spielerei. Das Trauma unserer Zeit – Orientierungsverlust, menschliche VereinsamungVereinsamung, gestörte Verhältnisse, Erinnerungen an Kriege, die Bombe von Hiroshima, die Fülle vorbeifliegender Nachrichten und Bilder – redet in allen Geschichten mit. Außerirdische experimentieren mit verängstigten Menschen; Fernseher und Computer beobachten die ahnungslos Dasitzenden; einige erstarren in Gedanken an all die bevorstehenden Ungeheuerlichkeiten, und mancher hat schon im Geist seine Arche bereit, um der erwarteten Flut zu entkommen. Alles Denk- und Undenkbare trifft ein. „Nichts, was denkbar ist, geschieht nicht; zudem oft das Ungedachte. Die Wirklichkeit läßt keine Ungeheuerlichkeit aus. Die Phantasie ist längst eine kleine, sorgsame Anarchistin geworden, die in den verkrusteten Falten des Gedächtnisses herumkramt und Dinge zutage fördert, die kein Mensch mehr für möglich hält.“15 All dessen ungeachtet hat Widmer eine lebensbejahende Antwort für seine verstörten Zeitgenossen. Die Tür zum Paradies steht jedem im Getöse der Großstadt, am und im Inneren des Gotthard, auf dem Dorf und im Kaukasus offen. Die Voraussetzung, sie zu finden, ist die Freude am Leben. Jeder soll sich aufraffen, gerne zu leben: „Sogar angesichts unserer Welt.“ (145)

      Martin WalsersWalser, Martin Kommentar zur Frage der Orientierung in der Gesellschaft, der Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung und Identitätskrise ist aufschlussreich für seine Haltung als Erzähler. Er betont die Unmöglichkeit, das eigene Ich zu erfassen. „Auf sich selbst kann man sich nicht konzentrieren. Ich – das wäre die reine Grundlosigkeit. Da würde man aus der Schulstunde heraus in eine tönende Unausdrückbarkeit versinken.“16 Wolfgang Hildesheimer äußert ähnliche Zweifel. Er stellt fest: „Ich habe meine Identität verloren uns mache mich auf die Suche nach meinem Ich. Schließlich finde ich einen ganzen Haufen von Ichs. Welches aber ist das meine? Mir dämmert Furchtbares: ICH BIN NICHT EINMALIG!“17

      Das „Vorwort als Nachwort“ in WalsersWalser, Martin Springender Brunnen18 befestigt die Erzählung bewusst eindeutig mit Hinweisen auf und Erklärungen von Spracheigenheiten im dörflichen deutschen Sprachraum. Sowohl den Familienromanen von KempowskiKempowski, Walter und Wackwitz als auch den Erinnerungsdiskursen von GrassGrass, Günter, MaronMaron, Monika und OrtheilOrtheil, Hanns-Josef vergleichbar, beleuchtet die Handlung einen Ausschnitt aus der deutschen Geschichte. Der Erzähler berichtet aus der Perspektive der Geschäftsleute, die Gastwirtschaften führen und Kohlenhandel betreiben oder dem Obsthandel nachgehen und sich durch Grundstücksankäufe wirtschaftlich verbessern wollen. Die Zeit von der Weltwirtschaftskrise bis zu den Nachkriegsjahren erscheint im Spiegel der Auswirkungen auf das Kleinbürgertum. Der Roman thematisiert jedoch nicht nur die Haltung der Menschen zu den Ereignissen, sondern auch in der Bewusstseinsbildung der zentralen Figur Johann dessen Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung und wachsende Erkenntnisfähigkeit. Darüber hinaus ermöglichen Johanns Versuche, seinen zurückliegenden Eindrücken eine feste Kontur zu geben, einen fortgesetzten Diskurs über die Frage, inwiefern das Vergangene durch eine Niederschrift greifbar wird und gegenwärtig sein kann. Die Einsicht, dass jedes gestaltende Schreiben zugleich eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Hoffnungen, Wünschen und Träumen ist, gibt dem Roman seinen Titel: „Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.“ (405) Die Reflexionen belegen, dass Walser deutlich die Schwächen einer Erinnerungsliteratur erkennt, die durch größte Konzentration auf Details den Eindruck authentischer Wiedergabe erwecken will. Er zeigt dagegen in der Entwicklung Johanns, wie sich Personen ändern und die VergangenheitVergangenheit ihren neu gewonnenen Ansichten entsprechend umgestalten.

      Die manchmal wuchernden Einzelheiten in Schilderungen der Landschaft, des alltäglichen Lebens und der Eindrücke Johanns sind konsequent bezogen auf den Ansatz, dem historischen Geschehen Sinn abzuringen. Das gelingt in der Gestaltung der Auswirkung des großen Hergangs auf die kleine Welt. Der Erzähler trifft den Nerv der dörflich kleinstädtischen Gemeinschaft am Bodensee in Gegensätzen und Übereinstimmungen, im Bestreben, der Wirtschaftskrise zu entkommen, in der Veränderung in der Einstellung zur Tagespolitik und zum Krieg. Besonders aufschlussreich sind die Einblicke in die Gefährdung der Menschen durch Handeln und Unterlassungen in den von den ökonomischen und politischen Ereignissen ausgelösten Lebenskrisen. Zugleich erfassen einzelne Aussagen und Reaktionen typische Verhaltensweisen. In ihnen kommen Grundwidersprüche der europäischen Welt und der deutschen gesellschaftlichen Entwicklung zu Wort. Der Rückgriff auf die VergangenheitVergangenheit, in der Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg, aus der Wirtschaftskrise, aus den Jahren der Machtübernahme und des Zweiten Weltkriegs das Blickfeld der Betroffenen beherrschen, ermöglicht die Darstellung einer umfassenden Palette unterschiedlicher Gesinnungen.

      WalserWalser, Martin schildert besser als KempowskiKempowski, Walter die Veränderung und Zurichtung der inneren Natur der Menschen im Wechsel der gesellschaftlichen Ansprüche. Manche empfinden, dass sie alles vergessen müssen, was sie gelernt haben. Die Not verlangt, eine Unterschrift zu fälschen, um das Restaurant zu retten. Die Angst verleitet dazu, nach der Kommunion den Hitler-Gruß zu üben oder wegzusehen, wenn ein halbjüdischer Schüler aus der Gruppe ausgestoßen wird. Ratlosigkeit und Sorge um die eigene Sicherheit münden in Schweigen, wenn Dachau erwähnt wird. Demgegenüber werden andere, für die ein Lehrer beispielhaft wirkt, überzeugte Anhänger der Partei, die rücksichtslos auf dem propagierten Fortschrittsprogramm bestehen und nachts Menschen verprügeln, die sich nicht der neuen Ordnung fügen. Einige wie etwa der Vater mit einer kleinen Gruppe Gleichdenkender ziehen sich hilflos zurück, ohne offenen Widerstand zu leisten. Die Anpassungskunst vieler wird deutlich im Entschluss der Mutter, in die Partei einzutreten. Sie wird Mitglied nicht aus Überzeugung, sondern aus der nüchternen Überlegung, dass der Gasthof von dort abgehaltenen Versammlungen der Nazis profitieren werde. Sie ist geradezu „erlöst“ von ihrer Entscheidung. In ihrer Erklärung kommen breite Bevölkerungskreise der Mitläufer und Nischensteher zu Wort: „Mein Gott, man kann doch nicht gegen die Leute leben, wenn man von ihnen leben muß, oder!“ (250) Diese Eindrücke wie auch die vom Radio übertragenen Reden in Berlin am 30.1.1933 die erste Liebeserfahrung, der Entschluss, sich freiwillig zu melden, der Tod des Bruders im Krieg und alltägliche Ereignisse, sei es das Abliefern von Kohlen oder die Eigenart und die Leiden einzelner Einwohner, bestimmen den Erfahrungshorizont Johanns. Er denkt darüber während der Apfelernte und später am Schreibtisch nach. Als kritisch reflektierender Erzähler kommt er zu der Überzeugung, die Walsers eigener Überzeugung entspricht. Eine Lebensgeschichte ist keine faktische Dokumentation. Erinnerung ist Formgebung von Ereignissen. „Wir überleben nicht als die, die wir gewesen sind, sondern als die, die wir geworden sind, nachdem wir waren. … Ist jetzt im Vorbeisein mehr Vergangenheit oder mehr Gegenwart?“ (15) Die Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung ist erfolgreich. Die Betonung liegt auf dem Leben und der Orientierung im MitlebenMitleben.

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