Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung / Kontaktlosigkeit, AnpassungAnpassung / Auflehnung, Liebe / Liebesverlust, politisches Engagement / Flucht ins Abseits, Jugend und Zukunftsvertrauen / Altern und Leiden, aber auch Bejahung eines erfüllten Lebens, Dialog mit der VergangenheitVergangenheit, Selbstbejahung und Welterkenntnis.

      Im Vordergrund unserer Betrachtung stehen Werke, in denen sich kein Missverhältnis nachweisen lässt zwischen dem, was sich die Autoren und Autorinnen vorgenommen und dem, was sie erreicht haben. Die Qualitäten ihrer Prosa, ein Deutsch von größter Präzision und höchster Suggestibilität, lassen die Fülle vorüberfliegender Eindrücke der Massenmedien verstummen. Aus der Sicht der Themengeschichte stehen die Erzählungen unter dem Dreigestirn VergangenheitVergangenheit, GegenwartGegenwart und Zukunft. Urs WidmerWidmer, Urs stellt fest: „Ohne Geschichte entsteht keine Literatur“.5 Dem ist hinzuzufügen, ohne genaues Sehen, formgebendes Gestalten, in dem die Erinnerung zu Wort kommt, entstehen keine Erzählungen. In GoethesGoethe, Johann Wolfgang unverwechselbarer Diktion der Römischen Elegien hört man den Wunsch, die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu deuten.

      Deutlich ersichtlich ist, dass die jungen deutschsprachigen Autoren und Autorinnen den Verlust sinnstiftender Ideale und den Zusammenbruch festgefügter Weltbilder erfahren haben. Ihr Verfahren, das Unbestimmte, Unübersichtliche und ständig Wechselnde im heutigen Geistesleben, in der Wissenschaft und Politik zu erfassen, bedingt thematisch die Orientierungssuche, die Ortung und Bestandsaufnahme. Es zeigt sich im Stil, in der Struktur und in der Tendenz, labyrinthische Erzählschichten mit Zitaten, mit Selbstreflexion, theoretischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Verantwortung und adäquaten Wirklichkeitsgestaltung sowie Analysen des künstlerischen Schaffensvorgangs anzureichern. Unmissverständlich in der Vielfalt der Texte bleibt das zentrale Anliegen der Sinnsuche im Rahmen der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung, deren vielfältigen Ausprägungen im Zentrum der folgenden Darstellung stehen.6

      2. Blick auf die GegenwartGegenwart

      2.1. Nachdenken, Leitgedanken, Anregungen

      Die Gegenwartsliteratur verhandelt dieselben Themen wie die Literatur aller Zeiten und Räume: Liebe und Verlust, Leben und Tod, Jugend und Alter, das Alltägliche und das Außerordentliche. Sie schließt kritische Auseinandersetzungen mit politischen Ereignissen, der gesellschaftlichen Verfassung und den vorherrschenden Lebensbedingungen ein. Die Gegenwartsliteratur ist mit gattungstheoretischen Kategorien nur bedingt entschlüsselbar. Die Lyrik, die Bühnenstücke, Dokumentarberichte und Erzählungen werfen Fragen auf, die dem Wunsch entspringen, das Verhältnis Einzelner zu anderen, zur Gesellschaft, zur Umwelt und zum Zeitgeschehen zu klären. Sprechende, beobachtende und handelnde Figuren bemühen sich, dem Geschehen Sinn abzugewinnen und ihr Ich zu erkennen. Die fiktionale Stilisierung der Beziehungen der Figuren zur Welt lässt keine einfachen Rückschlüsse auf die WirklichkeitWirklichkeit zu. Trotzdem spielt die thematisierte Wirklichkeit eine wesentliche Rolle in der Dokumentarliteratur, im klinischen RealismusRealismus und in Darstellungen, in denen sich Realität und Phantomwelten in der Erfahrung der Figuren vermischen. Der Substanzverlust der Wirklichkeit wird angesprochen in Erzählungen, in denen Figuren nicht mehr zwischen Realität und Bildern auf Monitoren oder Realität und erlebten Computerspielen unterscheiden können. Die Raumperspektive gibt Aufschluss über die existenzielle Situationexistenzielle Situation. Die Figuren befinden sich in Räumen, in denen andere Personen Funktionen erfüllen und in denen Lebensprozesse als Funktionen ablaufen. Die Figuren suchen Halt und versuchen, ihre besondere, individuelle Eigenart festzulegen. Sie suchen jedoch nicht nur Orientierung, sondern wollen auch aus dem Prozess ausscheren. Die Darstellungen schildern übereinstimmende und diverse Einstellungen, die von unterschiedlichen Formen der AnpassungAnpassung bis zur freudigen Bejahung des Lebens und SelbsterkenntnisSelbsterkenntnis reichen.

      Bereits in den Nachkriegsjahren klingt in der Literatur das Entsetzen darüber an, dass eine vorbildliche Kulturgeschichte in Kriegsgeschichte und Verbrechen gegen die Menschheit einmündete. Die Erkenntnis dieser Situation ist wahrscheinlich eine der Voraussetzungen für das „Schweigen“ einer Generation über ihre Erlebnisse. Das in zahlreichen Erzählungen diskutierte Verstummen bedingt beispielsweise die Ermüdung des fiktiven Autors („der Alte“) in der Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter GrassGrass, Günter. „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen … dürfen.“1 Die Erzählung erkundet widersprüchliche und oft unvereinbare Auffassungen der VergangenheitVergangenheit und der Politik der GegenwartGegenwart, aber enthält unverkennbar die Aufforderung zur aktiven Teilnahme an der sittlichen Grundlegung der Gesellschaft. Auch Christa WolfWolf, Christa, die selbst Jahre nach dem Mauerfall die positiven Aspekte der kommunistischen Utopie betonte, stellt im Überblick ihrer Kindheit in Kindheitsmuster (1976) wiederholt den allgemeinen Orientierungsverlust der Bevölkerung fest. Die Menschen wurden gleichgültig, konnten niemals die „richtigen Fragen“ stellen und entwickelten das Gefühl, einem unerkennbaren Prozess ausgeliefert zu sein. Wolf ist überzeugt, dass die Situation mit dem Verlust fester Normen einsetzte. Die Suche nach sinnvollen Normen verbunden mit der scharfen Kritik des passiven Einordnens in die gegebenen gesellschaftlichen Zustände charakterisiert ausnahmslos die Schriften von Hans Joachim SchädlichSchädlich, Hans Joachim. Er beanstandet das utopische Denken, das mit Hilfe wissenschaftlich-technischer Entwicklungen eine friedliche, materiell und sozial leistungsorientierte Gesellschaft anstrebte. Schädlich, ähnlich wie Wolfgang HilbigHilbig, Wolfgang, Monika MaronMaron, Monika und Christoph HeinHein, Christoph, verurteilt die Auswirkungen der bestehenden Machtverhältnisse auf Menschen, die zu Identitätskrisen führen. Personen, die sich nicht dem gesellschaftlichen „Interesse“ fügen, erfahren nicht nur die Bedrohung durch das Staatswesen, sondern erleben die einmalige, eigenartige Situation, dass die Grenzen zwischen eigenen Vorstellungen und dem Wollen der Gesellschaft durchlässig werden. Diese Erfahrung, die von Wolfgang Hilbig in Ich (1993), Monika Maron in Pawels Briefe (1999) und Günter de Bruynde Bruyn, Günter in Zwischenbilanz (1992) erörtert wird, kann Vorstellungen hervorrufen, in denen Realität, Wahn und Traum verschwimmen. Die Figuren sind verunsichert, erfahren Identitätsverlust, werden mit den sie überwachenden Agenten austauschbar, fühlen sich schuldig, selbst wenn sie schuldlos sind, und erwägen letztlich die Möglichkeit, sie hätten Handlungen begangen, an die sie sich nicht erinnern können. Der Orientierungsverlust erzeugt schwere Krisen in der Sinngebung und Deutung des Lebens, die in Darstellungen der Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung markant hervortreten.

      Zwei 1995 veröffentlichte Erzählungen SchädlichsSchädlich, Hans Joachim geißeln den totalen Verlust jeder Sinngebung im Leben. Mal hören, was noch kommt schildert die letzten Stunden eines Sterbenden, dessen ganzes Denken einschließlich kurzer Rückblicke um sein Ich kreist. Die konsequente Engführung der Erzählperspektive auf die physische Existenz (Triebleben, Fäkalien, langsames Verfaulen auf der Matratze) vermittelt den Eindruck des völligen Verlusts der Orientierung. Der Bericht, in der Tonlage kühl und verhalten, konstatiert menschliche Defizite, den Untergang von Utopien und das Ende von jeder Sinnstiftung im Dasein. Das Schließen des Sarges entlarvt auch die im letzten Satz anklingende scheinbare Neugierde („Mal hören, was noch kommt“) als Illusion. Es kommt nichts.2

      Andere Figuren finden vermeintlichen Sinn und Halt in der unbedingten Hingabe an den Staat oder eine Ideologie. SchädlichSchädlich, Hans Joachim trifft den Kern des Daseins aller Agenten in der von Günter GrassGrass, Günter gelobten Erzählung Tallhover (1986) und im Trivialroman (1998). Der Erfahrungshorizont der Figuren wird beherrscht von dem Verlauf bedrückender, an KafkasKafka, Franz Prozeß erinnernder Ereignisse: Agenten, Chefs, das Archiv, anonyme Briefe, Telefonate, AggressionAggression, Schuldgefühle, wütendes Aufbegehren und LebensangstLebensangst. Wenn Madai ahnungslos ist, „muß Tallhover es in Herrn von Madais Kopf denken, damit der es weiß“.3 Die Beobachtung von Personen „hat das Folgende ergeben, sagt Tallhover.“ „Ich bin Arzt, sagt Tallhover im Tonfall von Professor Borchardt. Arzt sagt Tallhover.“ (178) Tallhover „träumt“, will die „Wahrheit“ über sich sagen und denkt über seinen Hass und seine Sympathien: „Sand, der den gleichen Vornamen wie ich trug, stach Herrn von Kotzebue in der Stunde meiner Geburt ins Herz, in den Mund und in den Leib, weil er meine Liebe zum reinen, unbedingten Staat, die Liebe