Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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Vaters zu töten trachtete.“ (270) Patriarchalisch verbohrt und besessen vom Staatinteresse schließt sich Tallhover am Ende in seinen Keller ein, konfrontiert ein imaginäres Oberstes Gericht und wartet auf sein Ende: „Kommt! Helft mir! Tötet mich!“ (283)

      So fügen sich die Figuren bis zum Schluss in ihr Schicksal, das zu bestimmen sie anderen überlassen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins in einer ausweglosen Situation bringt die Erzählung Schwer leserlicher Brief auf den Punkt, in der ein Arbeiter das Gesuch stellt, aus dem Staat entlassen zu werden, weil ihm die Genehmigung verweigert wurde, seinen schwer erkrankten Vater im „westlichen Teil der Stadt“ zu besuchen: „Ich kenn mich nicht aus den Akten.“4 Gleichermaßen aufschlussreich ist der Schluss des Trivialromans, als sich der Verbrecher Feder überlegt, seine Aufzeichnungen über die Taten seiner Bande zu veröffentlichen. „Heute, genau 3 Tage nach dem Telefonat mit Biber, lag ein anonymer Brief unter meiner Tür: Feder, mach Dein Maul nicht auf, sonst schieben wir Dir Deinen Schuh rein! Du lebst nicht allein auf der Welt! Sag Dir immer: ‚Ich will nichts! Das ist es, was ich will!‘“5 Feder gibt nach und besorgt sich eine Schachtel Zigaretten.

      Demgegenüber entwirft Ernst JüngerJünger, Ernst trotz scharfer Kritik eine positive Vorstellung der GegenwartGegenwart mit Ausblick auf die kommende Zeit in seiner Betrachtung der grundlegenden Erneuerungen der Technik, den sozialen Veränderungen und dem Wandel in den Künsten am Ende des 20. Jahrhunderts. Er hält sachlich in der Schere (1990) die Höchstleistungen auf den Gebieten der technischen Kommunikation, Medizin und Pharmaindustrie fest, findet jedoch, dass die moralischen Konsequenzen nicht eingehend genug untersucht werden.6 Die Technik schafft jetzt, was im Vorausgriff die Mythologie, die MärchenMärchen und literarische Zukunftsphantasien festhielten. Ohne Rücksicht auf Maß oder Sicherheit nehmen Experimente ständig zu. Der allgemeine Zugang zu technischen Erneuerungen macht die Technik heute zur Weltsprache, die deutliche Spuren in den Künsten hinterlässt. Die eindringliche, unmittelbare Übermittlung von Bildern im Fernsehen und auf Monitoren erleichtert ein neues Verhältnis zur Sprache. „Das Auffluten von Bildern begünstigt ein neues Analphabetentum. Die Schrift wird durch Zeichen ersetzt, ein Verfall der Rechtschreibung ist zu beobachten. Vulgarisierung der Grammatik ist die Konsequenz.“ (117-118) Jünger betont, dass die Symptome der Zeit deutliche Spuren in der Sprache hinterlassen, übersieht jedoch die zahlreichen literarischen Werke, in denen wie etwa in Jochen BeysesBeyse, Jochen Ultraviolett (1990) und Larries Welt (1992) die Computer- und Fernsehwelt thematisch im Mittelpunkt der Darstellung steht. In diesen Erzählungen wird das in Computerspielen nachempfundene Leben zur Chiffre für den Identitätsverlust. Jünger hebt mehrmals die „Vereinzelung“ der Menschen hervor, hat jedoch festes Vertrauen, dass das Universum im Prinzip „harmonisch“ ist und sich unendlich in der Zeit in einer SpiraltendenzSpiraltendenz entfaltet. „Die erste Bewegung, etwa pulsierend vom Punkte zum Kreis und vom Kreis zum Punkte, oder windend vom Punkt zur Linie und Sprache, erzeugt nicht das Universum, sondern schließt es ein. Noch ist die Zeit ein Meer ohne Ufer, geräumig für alles, was je erscheinen und auch für das, was verborgen bleiben wird.“ (184)

      Einzelne Schriftsteller sind politisch engagiert, manche sind überzeugt, dass sie den Staat nicht lenken können und andere gehen auf zurückliegende Kontroversen über die Aufgaben der engagierten oder unpolitischen Literatur und literarische Positionsbestimmungen ein. Autor(inn)en sind jedoch nahezu ausnahmslos von der gesellschaftlichen Verantwortung der Schriftsteller überzeugt. Die Literatur soll unterhalten, aber auch das Leben deuten, scheinbar undurchschaubare historische Prozesse dechiffrieren und nicht kommentarlos widerspiegeln. Die Kritik des Wirtschaftswunders wird ersetzt durch die Selbstbesinnung auf das Leben im Informationszeitalter, die Kritik des politischen Systemzwangs tritt in den Hintergrund und Deutungen der Anpassungssymptome nehmen zu. In Texten, in denen die Einvernahme in die heutige von den Medien maßgebend bestimmte Gesellschaft abgelehnt wird, folgt der Rückzug auf das Ich und die damit verknüpfte Ich-ErkundungIch-Suche, Ich-Erkundung. Wenn sich das Ich als gefährdet erweist, entstehen einerseits Versuche, das Dasein ersatzweise mythologisch zu befestigen, andererseits konzentrieren sich die Texte auf alle mit der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung verknüpften Themen.

      Die Konzentration auf das Leben heute, die alltäglichen Freuden und Sorgen, die jüngste VergangenheitVergangenheit in den deutschsprachigen Ländern und das Schicksal des unbehausten Menschen im Bild einzelner Emigranten, Immigranten oder Vertriebener verbindet die Literatur. Bei allen Unterschieden – Radek KnappKnapp, Radek erzählt Geschichten wie Isaac Bashevis Singer, Peter HandkeHandke, Peter orientiert sich an GoethesGoethe, Johann Wolfgang Naturbeobachtungen und Jochen BeyseBeyse, Jochen übertrifft William GibsonGibson, William – zeichnen sich bemerkenswerte Parallelerscheinungen in Themen ab. Die thematische Orientierung und die Motivkreise schaffen Gemeinsamkeiten, die trotz großer stilistischer Unterschiede die Gegenwartsliteratur prägen.

      2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens

      Die Erörterungen, ob 1945 die ‚Stunde Null‘ war, ob 1989 eine umgreifende Zeitenwende einleitete, Beobachtungen zum wechselvollen, langwierigen Prozess des Zusammenwachsens des ehemals geteilten Landes und Diskussionen über Kontinuität und Neuanfang der Literatur sind auch heute nicht abgeschlossen. Für Dieter WellershoffWellershoff, Dieter stellt 1945 eine klare Zäsur im deutschen Geistesleben dar. Er entwickelt diese Vorstellung in Aufsätzen zur Gegenwartsgeschichte, zur Zeitenwende und zur Wiedervereinigung. Die Texte sind ein Appell an die Vernunft. Wellershoff befürwortet die Demokratie und bestehende Verfassung als positive Entwicklung in Deutschland, nimmt Stellung zu Gewalttaten gegen Ausländer und lässt wiederholt Rückblicke auf die VergangenheitVergangenheit in die Erläuterung einfließen.1 Sein Kurzbericht über ein Gespräch mit einem japanischen Germanisten in Berlin verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Hintergrund all seiner Darstellungen bildet. Der japanische Professor sagte: „Die sogenannte Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit sei würdelos, denn man kritisierte seine Eltern nicht. Ich antwortete ihm, man nehme seine Eltern nur solange als lebendige, verantwortungsfähige Menschen wahr, solange man sich mit ihnen auseinandersetze, und historische Wahrheit könne nur im Gespräch der Generationen gefunden werden.“2

      Im Gegensatz zu WellershoffWellershoff, Dieter sind zahlreiche Schriftsteller fest davon überzeugt, dass die Exilliteratur, die Dichtung und einzelne Autoren wie etwa Gerhart HauptmannHauptmann, Gerhart eine Brücke zur VergangenheitVergangenheit schlugen. 1945 bot wie die Wiedervereinigung die Möglichkeit zum Bruch mit der herrschenden Ideologie und die Chance zur geistigen Erneuerung. Jurek BeckerBecker, Jurek, Günter de Bruynde Bruyn, Günter, Günter GrassGrass, Günter, Peter HacksHacks, Peter, Karl Krolow und Martin WalserWalser, Martin glauben an eine nationale Kultur, die ihre Wurzeln im Denken der Aufklärung und Klassik hat, und die weder durch die propagierten Ziele des NS-StaatsNS-Regime noch die DDRDDR-Utopie einer sittlich-harmonischen Gesellschaftsordnung beseitigt wurde. Die politischen Maßnahmen der Regierungen verdeutlichten den Widerspruch zu den Endabsichten. Günter de Bruyn bemerkt nüchtern in seinem Lebensbericht, dass nicht alle seine Meinung teilen, betont jedoch:

      Die SED-Theorie von den zwei deutschen Nationen mit den zwei deutschen Kulturen, von denen die eine der anderen auch noch um eine Geschichtsepoche voraus sein sollte, hatte meine Überzeugung nicht ändern können, daß auch während der staatlichen Teilung die eine Nation noch immer bestand. Ich glaubte nicht an die Möglichkeit einer baldigen Wiedervereinigung, wohl aber an die Beständigkeit einer nationalen Kultur. Meine Ansicht, daß nicht in Jahrzehnten zerstört werden könne, was sich in Jahrhunderten gebildet hatte, fand ich auch darin bestätigt, daß die Mauer und die politische Einbindung in den kommunistischen Osten keine Russifizierung zur Folge gehabt hatte und der Blick der DDR immer, ob freundlich oder feindlich, auf den freieren und größeren Teil Deutschlands gerichtet war.3

      Auch SchädlichSchädlich, Hans Joachim lehnt jede Trennung zwischen DDRDDR- und BRD-Literatur ab. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass es eine Literaturpolitik in der DDR gab. Trotzdem ist er überzeugt, dass Autor(inn)en gesamtdeutsche Werke schufen und gesamtdeutsch dachten. „Beide zusammen sind Deutschland.“4

      Diese von vielen geteilte Überzeugung übergeht Ereignisse wie die Ausbürgerung WolfWolf, Christa BiermannsBiermann, Wolf 1976, die von Kritikern und Befürwortern kontrovers diskutiert wurde,