Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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gerieten. Wie jede Kunst wurde die Literatur und Verantwortung der Autor(inn)en auf Parteitagungen besprochen. Schriftstellerverbände waren der Partei angeschlossen. Die Einstellungen der Parteifunktionäre und Theoretiker waren richtungsweisend und sollten befolgt werden. Die Erörterungen betreffen weitgehend Fragen der ‚wahrheitsgetreuen Wiedergabe‘ der WirklichkeitWirklichkeit, das ‚gesellschaftliche Interesse‘ und die ideelle Erziehung der Werktätigen. Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Literatur auf die wesentlichen Anliegen der Zeit eingehen muss und keinen fatalistischen Eindruck erwecken soll. Diese Ansichten kommen deutlich zum Ausdruck in der vom Mitteldeutschen Verlag 1959 einberufenen Autorenkonferenz im Industriezentrum Bitterfeld (Bitterfelder KonferenzBitterfelder Konferenz). Eine zweite Konferenz folgt 1964. Die Teilnehmer sind Schriftsteller, Korrespondenten, schreibende Arbeiter und viele Funktionäre. Die Forderungen sind eindeutig und verlangen das Mitwirken am Aufbau des sozialistischen Staates, Bejahung der politischen Ziele der Regierung, enge Beziehungen der Autoren zu Gegenwartsfragen, den Kampf gegen das Überlebte, aber auch Rückbesinnung auf das klassische Erbe. Das Resultat war ein politisch orientierter Oberflächenrealismus, der ohne Wirkung auf die nicht staatlich geförderte Literatur blieb.

      Volker BraunBraun, Volker ist der entschiedenste Befürworter einer eigenständigen DDRDDR. Er ist überzeugt, dass die sozialistische Gesellschaft im Gegensatz zur bürgerlichen und zum Kapitalismus im ‚gesellschaftlichen Interesse‘ wurzelt. Er nimmt zur Kenntnis, dass die utopische Verheißung höchster Sittlichkeit möglicherweise noch nicht völlig realisiert ist. Trotzdem ist die Gesellschaft im Werden und auf dem Weg zur Vervollkommnung. Braun kritisiert die „Selbstzufriedenheit“ der Bürokraten und Sozialisten, die nicht mehr tätig an der Entwicklung der Gesellschaft mitwirken.5 Das wahre Ziel liegt in der Zukunft. Das bisher geleistete genügt nicht: „In den Hallen früh, auf dem breiteren Feld, uns bleibt / Immer der Kampf: und es bleibt die Zeit des Volkes.“ (69) Brauns schärfste, einseitige und teils unreflektierte Kritik in Unvollendete Geschichte (1975, 1988) und KriegsErklärung (1967) ist gegen den Kapitalismus, das Wirtschaftswunder und den Vietnamkrieg gerichtet. Aber Brauns Darstellung im Hinze-Kunze-Roman (1985) vermittelt den Eindruck, es sei anmaßend anzunehmen, das ‚gesellschaftliche Interesse‘ verkörpere eine objektive Gesetzmäßigkeit.

      Matthias Matussek betrachtet nicht die Literatur, sondern die Einstellung der ehemaligen Bürger der DDRDDR. Er legt zehn Jahre nach dem Fall der Mauer im Spiegel (8.3.1999) eine Zwischenbilanz unter dem Titel „Keine Opfer, keine Täter“ vor und kommt zu dem Fazit, dass in der Erinnerung vieler, besonders der Nutznießer, die DDR-Zeit beschönigt und rehabilitiert wird. Die Opfer sind vergessen. Wie schon nach dem Ende des NS-StaatsNS-Regime werden Zweifel und kritische Fragen mit dem Hinweis abgewiesen: Man muss das eben selbst erlebt haben. Die Beteiligten empfinden sich nicht als Täter, sondern als Leidtragende. Diese Diagnose findet sich auch in literarischen Darstellungen der DDR. Thomas Brussig und Uwe W. SchmidtSchmidt, Uwe schildern in humoristischen Erzählungen das alltägliche Leben in der DDR aus der Sicht von Nutznießern und Personen, die das System bejahten, ohne wie etwa Volker BraunBraun, Volker, Stephan HermlinHermlin, Stephan oder Christa WolfWolf, Christa über die Utopie der neuen gesellschaftlichen Ordnung nachzudenken. Die Erzählungen verdeutlichen wahrscheinlich unbeabsichtigt das „Vor-sich-Hinleben“ im AlltagAlltag, das in Auseinandersetzungen mit der kritiklosen AnpassungAnpassung an die Gesellschaft im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Brussigs Geschichten Helden wie wir (1995) und Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) verdeutlichen die Einstellung von Menschen, die sich über Wasser halten, die täglichen Sorgen meistern, ein „bisschen“ schmuggeln und schwindeln und sich weder vom Staat noch von der StasiStasi bedroht fühlen. Die Erzählungen versuchen, ähnlich wie Uwe M. Schmidts Die Datsche oder Wie der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Kahlow beinahe die DDR gerettet hätte (2000), im Lesepublikum das Gefühl erwecken: Ja, so war das. Das Ganze war doch erträglich.

      Uwe SchmidtsSchmidt, Uwe Datsche fängt den Mentalitätswandel in der Einstellung zur DDRDDR-VergangenheitVergangenheit ein. Der Roman, zehn Jahre nach der Maueröffnung geschrieben, entwirft ein Bild alltäglicher Sorgen, gleichermaßen wichtiger und unwichtiger Bemühungen im Leben von DDR-Bürgern. Die Hauptfigur, Ewald Machmann, nimmt sich vor, die Einwohner Kahlows durch eine großangelegte Kleingartenplanung fester an ihre HeimatHeimat zu binden. Die Planung der Schrebergärten im Sperrzonengebiet steht unter dem Motto: Wer im eigenen Grünen pflanzt und erntet, bleibt im Land. Die Banalisierung der sozialistischen Utopie erstreckt sich auf die Charakterisierung der Figuren. SED- und MfS-Funktionäre wirken nicht bedrohlich. Sie haben dieselben Sorgen wie alle Bürger: materiellen Wohlstand, Liebeleien, nicht ernst zu nehmende Sollerfüllung und Erfolg durch AnpassungAnpassung. Was Schmidt besonders gut darstellt, ist der Geist des Kleinbürgerlichen, der den Staat beherrscht. Das von oben proklamierte gesellschaftliche Interesse verflacht im AlltagAlltag zu rein persönlichen Anliegen. Auch die von Funktionären ständig betonte Forderung der Sicherheit, die im sozialistischen Staat den geordneten Verlauf des Lebens garantiert, mündet in die Vorstellung der Einwohner, der Staat sei eine Lebensversicherungsanstalt. So erklärt sich auch die Nostalgie, mit der sich die Eheleute Katja und Ewald Machmann im Ausblick der Erzählung auf die Zeit nach der Wende an das Leben in der DDR erinnern. Sie sehnen sich nach den guten alten Zeiten und fragen sich, „ob die DDR nicht doch noch zu retten gewesen wäre.“ (254) Die nachdrückliche Betonung der kleinbürgerlichen Atmosphäre lässt alles ehemals Bedrohliche und Unmenschliche in Vergessenheit geraten und fängt auf diese Weise kunstvoll eine in den neuen Bundesländern verbreitete Vorstellung ein. Zugleich zeigt gerade Schmidts Erzählung, wie fremd die Vergangenheit bereits vielen Lesern ist: Das Buch endet mit Erklärungen, einem Glossar der gängigen DDR-Abkürzungen und Phrasen.

      Diese und ähnliche Apologien der DDRDDR sind letztlich Versuche, aus der Sicht all derer zu schreiben, die sich anpassten und Karriere machten. Die Besinnung auf die existenzielle Situationexistenzielle Situation der Menschen ist dennoch deutlich erkennbar in der scheinbar unbeteiligten Genauigkeit, mit der Volker BraunBraun, Volker den Zusammenbruch der kollektiven Identität im sozialistischen Staat schildert. Der Blick auf die Forderungen des Tages kennzeichnet nicht nur Braun, sondern auch die Vielfalt der Erzählhaltungen in Prosatexten und der Handlungsentwicklung in Stücken. Er ist deutlich in der leidenschaftlichen Teilnahme Monika MaronsMaron, Monika für die Erzählfigur in Animal triste (1996), die weder den Gigantismus der Saurier noch die absolut rationale Organisation der Ameisen in der menschlichen Gesellschaft wiederfinden will, und selbst in den von Thomas BernhardBernhard, Thomas stilisierten Monologen des atemlosen Sprechens, die leicht variiert in Erzählungen von Jochen BeyseBeyse, Jochen und Birgit VanderbekeVanderbeke, Birgit die VereinsamungVereinsamung Einzelner erfassen. Die ungelösten Gegensätze, unvereinbaren Widersprüche und fortbestehenden Probleme klingen in zahlreichen Erzählungen und Stücken an, in denen die Wiedervereinigung, der Mauerfall und die Mutmaßung einer ‚Zeitenwende‘ oder ‚Wendezeit‘ das besondere Kolorit für die menschliche Situation liefern.

      Thomas HettcheHettche, Thomas verwertet in Nox (1994) Details aus Augenzeugenberichten und Tagesnachrichten in Dokumentation eines Tages (9. November 1989). Die Ausschnitte fangen die Aufbruchsstimmung ein und vermitteln das Gefühl eines Volksfests, einer fröhlichen Anarchie. Die Zukunft wirkt hoffnungsvoll. In Ulrich Woelks Rückspiel (1993) erlebt der Ich-Erzähler, ein Architekt, die Maueröffnung am Brandenburger Tor. Woelk hält mit dokumentarischer Genauigkeit die zeitgenössischen Pressestimmen fest, in denen sich die verschiedenen Einschätzungen der Ereignisse spiegeln. Der Fall der Mauer ist aus westlicher Sicht ein Symbol für das Ende der Unterdrückung, aus der Sicht der Bürger der DDR DDRein Signal für den Aufbruch in die Konsumgesellschaft. Diese wie auch die Erzählungen von Brigitte Burmeister Unter dem Namen Norma (1994), Günter de Bruynde Bruyn, Günter Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992), Rita Kuczynski Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze (1999), Heiner MüllerMüller, Heiner Krieg ohne Schlacht (1992), Irina Liebmann Berlin (1994), Erich Loest Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk (1990), Hans Pleschinski Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland (1993), Uwe Timm Johannisnacht (1996) und Klaus Schlesinger Trug (2000) bieten einen kaleidoskopischen Blick auf einen Abschnitt deutscher Geschichte. Vor Augen tritt die miterlebte Geschichte, ein Augenblick im Ablauf eines historischen Prozesses, der sich noch der Deutung entzieht. Diese Erzählungen, zu denen auch Andreas