Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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erste Ansätze, im Querschnitt durch das Leben der Einwohner einer Stadt moderne Zeitromane zu schreiben.

      ZschokkesZschokke, Matthias dicker Dichter strebt nach Genauigkeit, indem er ruhig beobachtet und aus der Distanz Stellung nimmt. Neumeisters Berichterstatter-Figur fährt unermüdlich durch Berlin, will alles aufnehmen, erkunden und erklären, das heißt „ausdeutschen“. Sie verliert jedoch die Orientierung im Strudel aktueller Nachrichten, Momentaufnahmen aus den Medien, den Bereichen der Philosophie, der Musik und der Literatur und selbst Kurzvignetten von Modeerscheinungen. Der Text verzeichnet einen Überfluss von Eindrücken, die jedoch scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stehen und den Eindruck des Orientierungsverlusts erwecken. Das Nachdenken über die Folgen der Wiedervereinigung tritt viel stärker in den Vordergrund in den Romanen von Brigitte Burmeister Unter dem Namen Norma (1994 und Irina Liebmann In Berlin (1994). In beiden Romanen prägt die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands den Lebensrhythmus der Figuren und beeinflusst ihre Vorstellungs- und Gefühlswelt. Konkrete historische Ereignisse erscheinen in ihren Auswirkungen. Das große geschichtliche Panorama bleibt im Hintergrund, während es bei Jurek BeckerBecker, Jurek und Christoph HeinHein, Christoph deutlich in den Vordergrund tritt.

      Jurek BeckersBecker, Jurek Erzählung Amanda herzlos (1992) ist wie Ein weites Feld (1995) und Mein Jahrhundert (1999) von Günter GrassGrass, Günter eine ausgezeichnete, aufschlussreiche und überzeugende Aufarbeitung der Zeit und der widersprüchlichen Vorstellungen unterschiedlichster Personen. Beckers mehrschichtige Perspektive und die Gliederung in Berichten, Überblicken und Geschichte in der Geschichte vertieft die Erzählung. Der Titel „herzlos“ erfasst konzentriert die allgemeine menschliche und gesellschaftliche Situation einer Welt ohne Karitas, Mitgefühl, Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft. Der Roman veranschaulicht Amandas Leben und ihre Einstellung zur Gesellschaft aus der Sicht ihrer Ehepartner. Ihre Selbstbezogenheit und der Verlust einer sinngebenden Ordnung sind gleichermaßen nachweisbar in kritischen Darstellungen des alltäglichen Lebens in der BRD und dem wiedervereinten Deutschland. Der Roman schildert außerdem die Reaktion verschiedener Figuren auf Ereignisse, die vom Staatssystem der DDRDDR beeinflusst sind. Becker verdeutlicht nuanciert und überzeugend die unterschiedlichen Einstellungen zum System. Amandas Mutter Violetta Zobel kann nur die Schlagworte der Partei wiederholen und ist fest überzeugt, dass die Welt des Kapitalismus untergehen wird.6 Humoristisch eingefärbt sind die Feststellungen des Anwalts Kraushaar, der eine DDR-Bürgerin heiratet und unter größten Schwierigkeiten in die Republik übersiedelt. Die Ehe ist ohne Bestand und hinterlässt in ihm die feste Überzeugung, dass die Menschen in dem System verurteilt sind, unmündig zu bleiben.

      Glauben Sie mir, sagte er, diese Leute sind für ein Leben in freier Wildbahn verdorben. Sie sind es gewohnt, in Gehegen zu existieren, alles Unerwartete versetzt sie in Panik … Ich habe vergessen zu erwähnen, daß diese Menschen kein Erbarmen kennen. In der Schule hat man ihnen eingebleut, daß das Mitgefühl im Kapitalismus den sicheren Tod bedeutet, und diese Lehre ist ihnen als einzige im Gedächtnis geblieben. Unsere Ehe bestand aus zwei Halbzeiten. In der ersten habe ich sie im Fach Lebensart unterrichtet; in der zweiten hat sie mir eine Lektion im Fach Gnadenlosigkeit erteilt. (299)

      Im ‚ersten Bericht‘ beschreibt der Journalist Ludwig Weniger für den Scheidungsanwalt sein Leben mit Amanda. Er konzentriert sich auf ihre Schwächen, enthüllt jedoch zugleich seine eigenen. Die Ehe mit Amanda besteht aus ständigen Reibereien, weil sie es darauf anlegt, ihn zu ärgern. In ihr steckt „eine Niedertracht“, die keine Anstöße braucht, sondern „einfach da ist“. (72) Das Gesamtbild erfasst nur negative Eigenschaften: Amanda ist kalt, gefühlsarm, eigensinnig, berechnend, rechthaberisch und grenzenlos im Streit. (96) Außerdem lebt Ludwig, der sich völlig an das System angepasst hat, in ständiger Angst, dass die Ehe seiner Karriere schadet. Amanda versucht, als Schriftstellerin Karriere zu machen und nimmt Kontakt mit einem westdeutschen Verlag auf. Ludwig ist neidisch, liest heimlich in dem Manuskript und beurteilt es als misslungen. Seine Abneigung nimmt zu, als ihn Norbert, ein StasiStasi-Informant, wegen seiner Frau zur Rede stellt. Seine Reaktion verdeutlicht, dass er selbst alle negativen Eigenschaften hat, die er Amanda zuschreibt. Er ist außerdem bereit, seine Frau zu bespitzeln, ist roh und will nur bewundert werden. Insgesamt entspricht sein Verhalten dem des Schriftstellers Fritz Hetmann, mit dem Amanda neun Jahre verheiratet ist.

      Hetmanns Bericht wiederholt und erweitert Ludwigs Beobachtungen. Hetmann ist Dissident, leistet jedoch keinen wirklichen Widerstand. Er erhält die Genehmigung, im Westen zu veröffentlichen, und lebt unangefochten in der DDRDDR. Seine Gedanken kreisen um sein Ich, nicht um die gesellschaftliche Verfassung. Er will stark und verführerisch sein, will bewundert werden und findet seine schriftstellerische Arbeit besser als Amandas, deren „gespreizte Ausdrucksweise“ langweilig wirke. (162) Er glaubt, sie leide an Erfolglosigkeit und solle über seine „Schultern sehen“. Sein Egoismus ist deutlich in der Feststellung: „Immerhin, gab es ja auch ihn, und welcher junge Mensch, der zu schreiben anfängt, hatte schon das Privileg, in unmittelbarer Nähe eines leibhaftigen Schriftstellers zu leben.“ (178) Diese Feststellung wie auch alle Hinweise auf die persönliche Haltung, die politische und allgemeine gesellschaftliche Situation erweitern die Dokumentation unerfreulicher Ehen schließlich zu einer umfassenden Darstellung verfehlter Selbstentwicklung in der GegenwartGegenwart, die sowohl das Leben in der DDR als auch im wiedervereinten Deutschland kritisiert.

      BeckerBecker, Jurek beschreibt das lustlose Vor-sich-Hinleben im quälenden AlltagAlltag gleichermaßen eindringlich in den Erzählungen Der Verdächtige und Allein mit dem Anderen. Die Geschichten betonen die Widersprüche im Leben und die Schwierigkeit, eine erkennbare oder vorstellbare Wahrheit festzustellen. Der Verdächtige erscheint als Einwohner der DDRDDR, der sich völlig von der Welt abschließt, um keinen Verdacht zu erregen. Er verfällt ins Schweigen, will dem Staatssicherheitsdienst nicht auffallen und so leben, dass er keinen Argwohn erregt. Nach einem Jahr kommt er zu der Überzeugung, dass nicht der ungerechtfertigte Verdacht und das Interesse des Staates ihn in die Isolation getrieben hätten, sondern er selbst: Es tut „nicht weh, beobachtet zu werden“, stellt er fest und beschließt, sein Leben unter Beobachtung fortzusetzen.7 Auch die Figur des Ich-Erzählers in Allein mit dem Anderen folgert nach quälenden Versuchen, dem Dasein Richtung zu geben, dass jedes wirkliche Handeln ihn um seine Stellung in der Gesellschaft bringt, aber jedes Nichthandeln zu Schuldgefühlen führt (211-226).

      Christoph HeinHein, Christoph veranschaulicht eine vergleichbare Konstellation in Der Tangospieler (1989).8 Der Roman erfasst in der kurzen Zeitspanne von acht Monaten die Selbstanalyse des Historikers Hans-Peter Dallow und seine Versuche der Einordnung in die Gesellschaft. Die Handlung spielt von Februar bis September 1968, also zur Zeit des Einmarschs der Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968, und die Darstellung enthält konkrete Hinweise auf die politische Lage der DDR und Gegenwartszitate. Vor diesem Hintergrund tritt der Wirklichkeitsanspruch des Romans scharf hervor in der nuancierten Veranschaulichung der Situation des Historikers, der nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen wird und vergeblich versucht, wieder Fuß zu fassen. Die Bewusstseinslage Dallows tritt in seiner Erfahrung menschlicher Beziehungen, äußerer Ereignisse und der politischen Situation hervor. Dallow versucht, Anschluss an alte Bekannte zu finden, will neue Freundschaften schließen, verstrickt sich in Liebesabenteuer, bemüht sich, eine Anstellung zu finden und will seine Gefängniszeit vergessen. Alle Versuche scheitern. Er lehnt ein Stellenangebot vom Staatssicherheitsdienst ab, kann aber selbst als Kraftfahrzeugfahrer nicht unterkommen. Er trifft auf seinen Verteidiger und Richter und lernt, dass sich beide bestens verstehen und den Staat loben, denn man „ist vorwärtsgekommen“: Inzwischen würde Dallow nur noch gerügt, aber nicht mehr verurteilt werden.

      Der Gesamteindruck unterstreicht, dass das politische System die menschliche Verunsicherung erzeugt. Dallow ist nicht wirklich politisch engagiert, will nicht direkt vom Staat abhängig sein, ist aber bereit, sich anzupassen. Er ist jedoch nicht fähig, sich in der gegenwärtigen Situation zu entwickeln. Was er ständig erfährt, ist der Verlust der Orientierung und der Sinnstiftung im Dasein. Die Kritik ist gleichermaßen deutlich in allen Romanen von BeckerBecker, Jurek und HeinHein, Christoph und in zahlreichen Erzählungen, die das urteilslose, bequeme Vor-sich-Hinleben, die Verkümmerung der Liebe und die Unfähigkeit, aus der Selbstbezogenheit auszubrechen, thematisch erfassen.

      Für die jüngste