Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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kamen und heute abermals, wenn auch in verwandelter Erscheinungsweise, erkennbar werden. Zur Diskussion stehen vereinzelte Exzesse radikaler Jugendlicher und die zuweilen im Ausland erhobene Beschuldigung eines im deutschen Volk ausgeprägten Antisemitismus. Niederschlag im literarischen Schaffen dagegen fand eine durchaus kontinuierliche Entwicklung künstlerisch zunehmend gelungener Gestaltungen der Vergangenheitsthematik,9 der existenziellen Situationexistenzielle Situation der Menschen in der GegenwartGegenwart und des Lebens im weltweiten, postmodernen Informationszeitalter. Im Gegensatz zu Politikern ist für die Autoren und Autorinnen auch die Europäische Gemeinschaft kein zentrales Problem; sie leben in Deutschland, einige in anderen europäischen Ländern, aber schreiben in der deutschen Sprache, knüpfen an die deutsche und gemeineuropäische Kulturtradition an und konzentrieren sich auf das Leben im AlltagAlltag, ohne große Entwürfe einer deutschen Nationalliteratur zu machen. Monika MaronsMaron, Monika Antwort auf die Frage, worüber sie denn schreiben wolle, nachdem sie nach Westdeutschland umgezogen war, ist für viele gültig:

      Und was will die Frage von mir, ob ich nun, in meiner ‚neuen Heimat‘, über die Probleme des Westens schreiben wolle oder ob mir nun vielleicht der Stoff ausginge. Als hätte ich bislang über Känguruhs geforscht und nicht über Menschen geschrieben, und zwar deutsche, deren jüngste Vorgeschichte die aller Deutschen ist.10

      2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen AlltagAlltag

      Das ErzählverfahrenErzählverfahren, das alles, was im Leben der Figuren eigentlich ungewöhnlich erscheinen sollte, als alltäglich beschreibt, prägt die hier besprochenen Schilderungen. Sie thematisieren Kritik der gesellschaftlichen Verfassung und zugleich AnpassungAnpassung an die Situation, Unzufriedenheit, Unbehagen im prosaischen AlltagAlltag, Gefühllosigkeit, Orientierungsverlust und das immer wieder anklingende Bestreben einer möglichen Selbstentwicklung. Die allumfassenden Anliegen charakterisieren alltägliche Geschichten aus der DDR, der BRD, dem vereinten Deutschland, Österreichs und der Schweiz. Die Ereignisse, die Bernd Willenbrock in Christoph HeinsHein, Christoph Willenbrock (2000) direkt betreffen, charakterisieren nicht nur seinen Ausschnitt aus einem scheinbar durchschnittlichen Lebenslauf, sondern erwecken zugleich den Eindruck einer zeitnahen Bestandsaufnahme. Willenbrock passt sich erfolgreich an die veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse an; er verspürt keine Nostalgie und verlangt keine Abrechnung mit ehemaligen SED-Mitgliedern oder Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, selbst wenn diese, wie er jetzt weiß, ihm seine Arbeit erschwerten und Reisen ins Ausland verhinderten. Er betrachtet ironisch und distanziert das jüngste Zeitgeschehen. Er handelt mit Gebrauchtwagen, das Einkommen steigt ständig, das Unternehmen wird vergrößert, Bernd und sein Bekanntenkreis bejahen den Kapitalismus. Seine Ehe befriedigt ihn. Er findet jedoch, er müsse seinem Stand entsprechend auch erotische Erlebnisse haben. Seine Affären mit einer Angestellten, einer Hausfrau und einer Studentin hinterlassen in ihm das Gefühl, er habe ein von ihm erwartetes Soll erfüllt. Diese Schilderung unterstreicht den Eindruck der Anpassung an eine Konsumgesellschaft, in der alle vor sich hinleben. Heins Roman charakterisiert jedoch zugleich in scharfen Vignetten (Diebstähle im Autohof, Einbruch im Sommerhaus, interesselose Polizei und Steuerbehörde, teilnahmslose Krankenschwestern, jeder soll sich wie der Taxifahrer eine Waffe kaufen, Ausschnitte aus dem Leben des polnischen Mechanikers Jurek) die Entgleisungen der Gesellschaft.

      Die Darstellung der AnpassungAnpassung an die Umstände und zugleich Kritik der unhaltbaren Zustände in HeinHein, Christophs Willenbrock vermittelt den Gesamteindruck einer überzeugenden Kritik der Gesellschaft und des Orientierungsverlusts der Personen, die sich mit den Umständen abgefunden haben. Die Beschreibung der Beerdigung von Bernds Schwiegermutter ist sowohl für sein Verhalten als auch für das anderer in der Gesellschaft aufschlussreich. Der Schwager lobt seine Frau für die Pflege der alten Mutter und ist zugleich froh, dass nun die Dachwohnung für die Tochter frei geworden ist. Sie „war bereits ausgeräumt und sollte in den nächsten Tagen tapeziert werden“.1 Die Skizze des Essens nach der Beerdigung vertieft die Charakterisierung Willenbrocks als Experte eines Lebensstils ohne ethische Verpflichtung. Als die Kellnerin Bier an den Tisch bringt, fragt Bernd seinen Schwager sofort, ob er „ein Verhältnis“ mit dem Mädchen habe. Die peinliche, unpassende und dem Augenblick völlig unangemessene Frage entspricht Willenbrocks Erfahrungs- und Erwartungshorizont: Kontaktlosigkeit wird durch Augenblickserfahrungen überwunden. Die Lösung der Misere entzieht sich dem Einblick der Figuren. Deshalb stellt der Erzähler nur nüchtern fest: In Berlin beginnt „Sibirien neuerdings vor unserer Haustür“. (211)

      Willenbrock gehört in die lange Reihe von Figuren, deren Handeln und Unterlassungen allumfassende menschliche und gesellschaftliche Defizite beleuchten. Die Figuren stellen Fragen, die jeden Leser berühren, aber finden keine Antwort. Die Texte verdeutlichen: Das Schweigen ist kein Verschweigen. Es ist der Tatbestand eines Leidens an einer verspürten Öde des Daseins. Jurek Becker Becker, Jurekschildert in Aller Welt Freund (1982), wie dieses Befinden schließlich in einem Selbstmordversuch mündet. Kilian, dessen Beobachtungen und Erfahrungen einen Überblick des Zeitgeschehens vermitteln, ist Journalist, der Tagesnachrichten berichtet und kommentiert. Alle Nachrichten sind bedrückend und Kilian „leidet“ besonders an den „Zuständen, die dahintersteckten“.2 Die Zustände bleiben stets dieselben: Borniertheit der Politiker, kriminelle Übeltaten, Hunger, Demonstrationen, staatliche Auseinandersetzungen, die die Furcht vor Kriegen schüren, Epidemien, nie endende Leiden der Menschen und ein AlltagAlltag, der von „lächerlichen Kleinigkeiten“ (Einkaufen, Trinken, Kino, Wochenende, Verdruss im Beruf) bestimmt ist. Das Resultat ist ein Symptom der frühen Vergreisung nicht nur in Kilian, sondern auch in zahlreichen Personen in seiner Umgebung. Ein Angestellter der Behörde, der Bruder Manfred, Kilians Freundin Sarah, der Arzt, der Pfarrer, die Mutter und Zimmervermieterin haben ein „Abwehrsystem“ eingebaut, um sich anpassen zu können. Die eingehenden Vorbereitungen auf den SelbstmordSelbstmord, der durch die zufällige Rückkehr der Vermieterin verhindert wird, enden schließlich in dem Entschluss, sich wie alle anderen an die bestehenden Gegebenheiten anzupassen. Kilian wird in Zukunft ohne die quälende Ermittlung einer möglichen sinnvollen Selbstentwicklung leben.

      Die Erfahrung, dass man es ohne gesellschaftskritische Auseinandersetzungen schaffen kann, berufliche Erfolge hat und mit dem AlltagAlltag zufrieden ist, wird in Erzählungen aufgegriffen, die sich nicht auf die thematisierte EinkreisungEinkreisung konzentrieren. Die erstaunliche Sensibilität für Alltagssorgen ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Trotz markanter Unterschiede im Lokalkolorit Österreichs und der Schweiz bestehen deutliche Übereinstimmungen in der Gestaltung der geschilderten Lebensläufe. Da die Einkreisung, Orientierungssuche und Überwindung der Krise in den folgenden Kapiteln eingehend untersucht wird, verweise ich hier nur auf einige kennzeichnende Texte. BeckerBecker, Jurek beschreibt in Irreführung der Behörden (1973) die Konjunktur des Romanciers Gregor, dessen Romane verfilmt werden und der sein ursprüngliches Unbehagen am Alltag als vorübergehende Erscheinung ablehnt. In Robert MenassesMenasse, Robert Erzählungen entsteht aus einer kaum merkbaren Verknüpfung von EntwicklungsthematikEntwicklungsthematik und Kulturkritik mit wechselnden Erzählperspektiven ein Gesamtbild unserer Tage. Menasse schildert die Lebensfahrt Roman Gilanians als Rückschau, kritische Sichtung der VergangenheitVergangenheit und Bejahung widersprüchlicher Tendenzen in der GegenwartGegenwart. Die Trilogie setzt ein mit Sinnliche Gewißheit (1988), einem Roman, in dem die Reflexion, das grüblerisch Nachdenkende überwiegt. In Selige Zeiten, brüchige Welt (1991) gelingt der Kunstgriff, die traditionelle Erzählperspektive des 19. Jahrhunderts zu beleben. Die Erzählperspektive wird dadurch ein wesentliches Element der Ortung der Vergangenheit. Sie fängt sowohl die Freude am Plaudern als auch die Vorstellung einer heilen Welt ein und verbindet sie mit der Sehnsucht nach einer Zeit, der permanente Identitätskrisen fremd waren. Schubumkehr (1995) verdeutlicht bereits in der diskontinuierlichen Formgeste, dass das Anlehnungsbedürfnis an die Vergangenheit verständlich ist, aber keine Lösung für die Ansprüche der Gegenwart bietet. Schubumkehr ist eine Zeitenwende in der Geschichte, im Tageslauf einer Dorfgemeinschaft und im Leben der Figur Roman Gilanian. Aber Roman, von der Mutter „Romy“ genannt, der das Leben der Einwohner der kleinen Gemeinde Komprechts im Schicksalsjahr 1989 und damit gewissermaßen im Kleinen den Aufbruch zur neuen Zeit auf einer Videokassette festhält, stellt zu seiner Enttäuschung fest,