Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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Fördergelder, da die beiden wichtigsten Unternehmen, eine veraltete Glasfabrik und ein unrentabler Steinbruch, nicht mehr konkurrenzfähig sind. Der rührige Bürgermeister leitet die gesamte Umstrukturierung, die Schubumkehr, ein. Die Unternehmen, die Natur und die Menschen werden verändert, modernisiert und in die Neuzeit überführt. Der Vorgang ist begleitet von Ereignissen, Mord, Vergiftung, Ausländerhass, Unterdrückung, inzestuösen Neigungen, Magersucht, Leiden und Vernichtung sensibler Menschen. In den spannend geschriebenen Romanen entsteht ein thematischer Querschnitt durch die Zeit. Bei aller Sozialkritik sind sie letztlich lebensbejahend. Die allgemeine Umstrukturierung ist zugleich ein Aufruf, sich tätig dem Dasein zuzuwenden.

      Die phantastischen Geschichten aus dem alltäglichen dörflichen Leben in Polen in Radek KnappsKnapp, Radek Franio (1994) ähneln der Schilderung in Schubumkehr. Durch die nahtlose Verbindung von konkretem Detail, Traumvisionen und schweifender Phantasie entstehen kleine Meisterwerke des magischen RealismusRealismus. Knapp, der seit 23 Jahren in Österreich lebt, gewinnt dem Leben auf dem Lande das ab, was weder die traditionellen Heimatromane noch die desillusionierende Anti-HeimatHeimat-Literatur bieten: Skurrile Bahnbeamte, weltfremde Grübler, in der Sonne träumende Kinder und selbst ein real wahrgenommener Teufel wirken belebt von einer nahezu greifbaren, plastischen WirklichkeitWirklichkeit des Seins. Die Figuren, Herr Trombka, der Bäcker Mostek, Schwager Wilhelm und Franio, sind belebt, nicht gedacht. Der Horizont ist offen, die Welt wirkt versöhnlich und der Erzähler führt seine Leser in Dörfer und „Städtchen, wo sogar die Wolken anders sind als überall sonst“.3

      Der thematisierte AlltagAlltag in Schilderungen der Selbstentwicklung in den Werken von Silvio BlatterBlatter, Silvio, Urs Faes, Perikles MonioudisMonioudis, Perikles und Adolf Muschg entspricht weitgehend den Erkundungen einer Gruppe von Schweizer Autoren und Autorinnen, die sich halbjährlich seit Anfang der 90er Jahre trafen und unter dem Namen NETZ bekannt wurden. In den Texten von Urs Richle, Ruth Schweikert, Perikles Monioudis und Peter Weber stehen Figuren, die Adolf Muschg als „Projektionsfiguren“ bezeichnet, im Schnittpunkt der Handlung. Sie vermitteln den Eindruck, in ihrer HeimatHeimat heimatlos zu sein; sie fallen aus der Gesellschaft und ihre Symptome berühren sich mit den Eigenschaften der Figuren in der österreichischen und deutschen Gegenwartsliteratur. In Silvio Blatters Roman Das blaue Haus (1990) versinnbildlicht das Haus die heile Heimat, einen sicheren Hafen für flüchtende Künstler während des Zweiten Weltkriegs und den Ort der Liebe zu Kindern. Das Haus wird am Ende enteignet, da ein Staudamm gebaut wird, der das ganze Land unter Wasser setzt. Der Ausklang entspricht dem Dasein Heinrich Zinns, dessen ganzes Leben unter dem Zeichen eines aussichtslosen Kampfes gegen die Inhumanität seiner Umwelt steht. Die eingeschobenen Kommentare zum Zeitgeschehen und Vignetten von Lebensläufen in absteigender Linie beleuchten den verzweifelten Widerstand Einzelner gegen eine historische Entwicklung, die sich ihrem Einfluss entzieht.

      Adolf Muschgs Besuch in der Schweiz (1978) stellt im Rahmen einer möglichen unmöglichen Liebesgeschichte zwei unvereinbare Welt- und Lebensanschauungen gegenüber. Franziska lernt Heinz auf einem Kliniker-Ball kennen; sie korrespondieren und der in der Schweiz lebende Heinz sendet ihr einen Verlobungsantrag. Sie besucht ihn, lernt seine Mutter kennen, die Franziskas Charakter und Benehmen als typisch deutsche „Nachkriegsmentalität“ beurteilt.4 Die Mutter und Heinz halten an einer altväterlichen Welt „wahrer“, auf Ikonen festgehaltener Werte fest und können Franziskas Einstellung zum Leben nicht verstehen. Der Gegensatz von Heiligenbildern und Freude am Tanzen lässt keine Lösung zu. Franziska und Heinz erkennen, dass die angestrebte Verlobung ein Missverständnis war. Sie reist ab und er hält an den tradierten Werten fest, die, wie die eingeschobenen Beobachtungen festhalten, im gegenwärtigen Leben in der Schweiz unzeitgemäß wirken.

      Erzählungen und Kurzgeschichten von Perikles MonioudisMonioudis, Perikles veranschaulichen in der Sammlung Die Forstarbeiter, die Lichtung (1996) die Beobachtungen eines Spaziergängers. Ausschnitte aus den Erlebnissen Einzelner beschreiben, wie sich alle mit den täglichen Ereignissen abfinden. Die Ereignisse – jemand schneidet sich Daumen und Zeigefinger mit dem Brotschneideapparat ab, ein Pfarrer begeht SelbstmordSelbstmord, weil Eltern über seinen Religionsunterricht entrüstet waren,5 ein Mann hat einen unerwarteten Wutanfall, weil ihn ein Junge nicht gegrüßt hat, ein junger Baumgärtner leiht sich ständig Bücher und weigert sich, diese zur Bibliothek zurückzubringen, da er sie mit seinen Notizen gefüllt hat, ohne die er nicht existieren kann (36-38), ein Bäcker beobachtet die Welt, aber vergisst alles – regen zum Nachdenken an. Überall schlummern Probleme, aber der AlltagAlltag entzieht sich der Analyse. Der Spaziergang durch die Schweiz mündet letztlich in eine KreisbewegungKreisbewegung, in der sich der Alltag wiederholt.

      Herta MüllersMüller, Herta Reisende auf einem Bein (1989) beschreibt die durchaus vergleichbare Situation in Deutschland. Die Erzählung schildert Ausschnitte aus dem Leben einer jungen Frau. Irene lebt in Deutschland, fährt ruhelos umher, erinnert sich an den Grenzübertritt aus Rumänien, das Übergangsheim, kahle Zimmer und unbestimmt unklare Stationen ihres Lebens. Sie versucht eine feste Bindung, einmal mit Thomas, einmal mit Franz, herzustellen. Ihr Gesuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, wird genehmigt. Dass sie außer der Tatsache, dass sie sich irgendwo in Deutschland befindet, aber keine erkennbare Beziehung zu dem Land hat, unterstreicht die eigentümliche Gestaltung der Figur. Irene ist eine Fremde im Leben und steht der alten und neuen HeimatHeimat ebenso fremd gegenüber wie allen Menschen, denen sie begegnet. Ihr Fremdsein ist ihre existenzielle Verfassung. Ihr Sehen erfasst nicht das Wesen der Dinge. Müller schreibt: „So lebte Irene nicht in den Dingen, sondern in ihren Folgen.“6 Die Folgen sind assoziativ verknüpfte, sich ständig entziehende Vorstellungen von Möglichkeiten. Versucht man sie zusammenzusetzen, so entsteht weder ein Erzählzusammenhang noch ein erkennbares Bild der Gesellschaft und des Landes. Was sich ergibt, ist eine aus Elementen zusammengesetzte Atmosphäre des Dauerzustandes alltäglicher Leiden in einer sinnentleerten Welt. Die Leere im Herzen, im Magen und im Blick kennzeichnet die Situation. Müller versucht, durch Auslassungen, kurze Sätze, vorübergleitende Wörter und die allgemein reduzierten Sprachfügungen den dementsprechend reduzierten Bewusstseinszustand der Figur zu deuten. Darüber hinaus wirkt sich die geistige Verfassung auf den physischen Zustand aus. Irene leidet. Sie ist nur vorübergehend am Leben, nur vorübergehend in einer Stadt am fremden Fluss gestrandet. Sie ist eine Bewohnerin „mit Handgepäck“, ständig aufbruchsbereit. Eine Erlösung aus dem Ennui bietet wahrscheinlich nur der Tod.

      Zum AlltagAlltag gehören heute Probleme des Alterns, der Sozialfürsorge und des Herausfallens aus der Gesellschaft. Alltagserzählungen schildern oft die Bedrohung der Menschen von innen, die Gefährdung, die von einem unkontrollierbaren körperlichen Verfall ausgeht oder auch die Verletzung des allgemein Menschlichen durch den Alltag, der keine Rücksicht auf Alte oder Kranke nimmt. Beispielsweise verleiht Gabriele WohmannWohmann, Gabriele in Bitte nicht sterben (1993) der Erzählerin der jüngsten Generation einen unschuldigen, manchmal staunenden, wenn auch leicht kritischen Blick, der die unmittelbare Sicht auf das tägliche Leben von drei Schwestern mildert. Louisa, Bertine und Marie Rosa leben bescheiden, führen ein genaues Haushaltsbuch, genießen Kleinigkeiten, helfen sich gegenseitig, teilen ihre Sorgen und haben sich mit der unabänderlichen Tatsache des Alterns und des einsetzenden, langsam fortschreitenden körperlichen Verfalls abgefunden. Sie wissen um Krankheit und Tod, aber der Tod beherrscht nicht ihren Gesichtskreis. Trotzdem schildert die Erzählung kein Glück im kleinen Kreis und verzichtet auf jede Verklärung des Alterns. Was fehlt ist die Überzeugung, die Gewissheit, für andere von Bedeutung zu sein. Alle verlangen Liebe in einer eintönigen Welt. Da alle zu beschäftigt sind, fehlt dazu die Zeit. Die Erzählerin bemerkt mehrmals ganz nüchtern, dass die täglichen Anforderungen keine Zeit für das lassen, was alte Menschen im Stillen suchen: „In Gedanken war ich schon beim Aufbruch … Stirb nicht, Marie Rosa. Es paßt nicht in meinen Zeitplan. Verdammt alt, die Leute, die ich liebe.“7 Die Beobachtungen wiederholen sich ständig: „Wenn man sich so selten sieht, ist es anstrengend, sich überhaupt noch zu sehen. Am besten, man gibts gleich ganz auf.“ (25) „Wenn ihre Mutter bloß ahnte, wie mißmutig und ohne jede Anhänglichkeit, Diskretion, Erbarmen ihre Tochter zu ziemlich fremden Leuten über sie spricht.“ (32) „Kommt bald wieder, rief Bertine uns nach, und ich wußte, wie dringend sie das wünschte und wie gelassen sie es gleichzeitig in Kauf nahm, als selbstverständlich nahm wie ihr übriges Leben, daß bald vielleicht erst in einem Monat