Horst S. Daemmrich

Sinnsuche und Krise


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Kultusministerkonferenz und enthält unter anderem ein Kapitel „Lebensbilder und VorbilderVorbild“. Auf der Suche nach geeigneten Geschichten zu diesem Thema stoßen die drei Experten auf Widersprüche und grundlegende Fragen: Welches Verhalten ist überhaupt aus welchen Gründen als „vorbildlich“ zu bewerten? Bieten Vorbilder die Voraussetzung zur menschlichen Entwicklung? Sind sie Orientierungshilfen oder Angstmacher? Die ganz unterschiedlichen Lebensläufe und Erfahrungen der Protagonisten begründen ihre unterschiedliche Einstellung zu diesen Fragen.

      Die Gegenüberstellung von Geschichten über Vorbilder, die von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe als geeignet angesehen werden, und wesentlichen Ereignissen aus ihrem eigenen Leben verdeutlicht die nahezu unüberbrückbare Kluft zwischen fiktiv gestalteten Denkformen und Widersprüchen des Daseins. Die Erzählung problematisiert drei Generationen. Pundt nahm am Weltkrieg teil, sein Sohn Harald engagiert sich bei den Studentenprotesten. Pundt hält sich für einen guten Erzieher, ist in der Beziehung zu seinem Sohn jedoch offensichtlich gescheitert, denn Harald hat sich das LebeSelbstmordn genommen, nachdem er dem Wunsch des Vaters entsprechend, ein ausgezeichnetes Examen abgelegt hat, in dem er keinen Sinn sieht. Pundt muss feststellen, dass er weder für die Bedürfnisse seiner Schüler noch für seinen Sohn jemals wirklich zugänglich war, und bricht schließlich seine Mitarbeit im Projekt „Vorbildsgeschichte“ ab. Der Roman beleuchtet die Konflikte und kommentiert zugleich das Bedürfnis nach Vorbildern, die der eigenen Zeit entsprechen und der persönlichen Entwicklung Raum und Ziel geben. Die Darstellung der Figuren weckt Teilnahme, ruft Kritik hervor und fordert durch Handeln und Unterlassungen die Leser zur Bestimmung ihres eigenen Standorts auf.

      Auch Heller begeistert sich für die Studentenproteste. Er lehnt grundsätzlich jede Konvention und jeden Autoritätsanspruch ab und ist jederzeit bereit, sich zu empören, kann seinen eigenen Anspruch aber nicht einlösen, in dem er sich etwa einer offenen Diskussion mit einem Schüler stellen würde. Über die grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen hat er die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld aus dem Blick verloren. Seine Frau hat ihn verlassen, zu seiner Tochter kann er keine Beziehung aufbauen. Rita gehört ebenfalls zur Nachkriegsgeneration, ist jedoch anders als Heller zu Kompromissen bereit. Das Chaos in ihrer Wohnung entspricht dem Chaos ihrer Gedanken. Sie hält sich selbst nicht für ein VorbildVorbild zu sein, ist aber überzeugt, eine vorbildliche Handlung deuten oder schreiben zu können. Deutlich wird, dass ihre festen Überzeugungen die Mitglieder der Arbeitsgruppe daran hindern, sich zu einer gemeinsamen Lösung zusammenzufinden, die zwar nicht dem Ideal entspricht, aber zwischenmenschliche Beziehungen fördern könnte. Demgegenüber gibt Das VorbildVorbild die Antwort, dass Vorbilder die Forderung stellen, die Widersprüche anzuerkennen.

      Deutlich ersichtlich ist, dass selbst Erzählungen von Walter KempowskiKempowski, Walter, Herbert RosendorferRosendorfer, Herbert und Peter RoseiRosei, Peter, die traditionell vorgeprägte und passende Erzählsituationen oder Perspektiven übernehmen, wie auch die Prosatexte von Thorsten BeckerBecker, Jurek, Thomas BernhardBernhard, Thomas, Jochen BeyseBeyse, Jochen, Hubert FichteFichte, Johann Gottlob, Ulla HahnHahn, Ulla und Elfriede JelinekJelinek, Elfriede, in denen realistische Details den Verlust menschlicher Entscheidungsfreiheit in der historisch bedingten Sphäre zunehmender Verdinglichung und Standardisierung von Beziehungen hervorheben, eine Übereinstimmung in der RaumRaumdarstellung aufweisen: Die WirklichkeitWirklichkeit ist widerspruchsvoll, selbst wandelbar und lässt unterschiedliche Perspektiven zu. Jede sinnvolle Gestaltung verbietet einen Oberflächenrealismus. Unverkennbar ist jedoch der Sachverhalt, dass in der thematisierten EinkreisungEinkreisung der Figuren trotz realistischer Einzelheiten feste Ort- und Zeitbestimmungen verschwimmen. Kempowski stützt sich in seinen Erzählungen jedoch auf die Annahme, dass die Wirklichkeit erkennbar ist. Die von ihm geschilderten Erinnerungen dokumentieren eine historisch authentische, aber begrenzte Sphäre.

      Walter KempowskisKempowski, Walter Schilderung der GegenwartGegenwart und seine Rekonstruktion der VergangenheitVergangenheit im Spiegel einer FamilieFamiliengeschichte als Alltagsgeschichte des deutschen Bürgertums erschien unter dem zusammenfassenden Titel Deutsche Chronik. Die von den Figuren auf das Lesepublikum übertragene Erfahrung der WirklichkeitWirklichkeit soll den Eindruck eines authentischen, zeitnahen, direkten Erlebnisses erwecken. Die Romane verwerten Zeitungsberichte, Dokumente, Briefe, Archivmaterial und alte Rundfunknachrichten. Sie versuchen, die literarische Realisierung des Materials durch eine Form von Protokollierung zu erreichen, die eine Plethora von Einzelheiten mit den Lebensläufen einzelner verbindet. Aus der Bemühung, die Dokumentation in der Tradition des Familienromans zu befestigen, entstehen Darstellungen von Kindheit und FamilieFamilie, Vignetten aus dem Leben einzelner, Ausschnitte aus dem Alltagsgeschehen der Zeit und kurze Beobachtungen, die die gesellschaftliche Atmosphäre beleuchten. Gespräche, Aussagen von Zeitgenossen, Äußerungen von Schulfreunden, einer Nachbarin, Wirtschafterin, Schneiderin, Tante, oder eines Kameraden facettieren das Material. Die historisch befestigten Zitate, das Idiom der bürgerlichen Sprache, die eingeschobenen pommerische Dialektstellen und die ideologische Verankerung der Ansichten verbürgen die Authentizität des Zeitbildbildes.

      Die Erzählungen streben an, den in das Zeitgeschehen eingebetteten Familiengeschichten die notwendige historische Vertiefung durch eine Optik zu geben, die persönliche Schicksale mit historischen Details und wechselnde Erzählerstimmen verbindet. Aus fiktiven, im Anspruch genauen Beobachtungen – Kinder auf dem Schulweg mit ihren Schiefertafeln, der Friseur, Herr Risse, bekommt „genau acht Pfennig für die Rasur erzählte Witze, Sonntagsausflug mit Kutscher und Pferdewagen, Tanzstunde, Besuch des Kaisers in Rostock, Lieder, beliebte Redensarten wie „Wer rastet, der rostet“, Begeisterung zu Anfang des Krieges 1914, Kriegsende am 11. November 1918, „um zwölf Uhr, genauer gesagt, um fünf Minuten vor zwölf“ und anschließende Räumung des besetzten Landes – entsteht eine Raumperspektive, die einen offenen Horizont vortäuscht.6 Für die Einzelnen geht das Leben weiter. Mögliche tragische Erlebnisse verbleichen.

      Das umfangreiche Erzählwerk Herbert RosendorfersRosendorfer, Herbert (Hörspiele, Novellen, Romane, fantastische Geschichten) entschärft tägliche Probleme und verzichtet wie einige Erzählungen Peter RoseisRosei, Peter auf philosophisch-kritische Auseinandersetzungen mit der von anderen Romanciers angenommenen gesellschaftlichen Misere unserer Tage. Der RaumRaum ist offen. Scharf getroffene Details selbst in Rosendorfers skurrilen Abenteuern wirken nicht bedrückend und die Reaktion der Figuren entschärft die denkbare kritische Auseinandersetzung mit dem Problem der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung. Das Dasein wirkt erträglich, selbst wenn die Figuren zuweilen wie in Die goldenen Heiligen (1980) Endzeitgespräche führen oder wie der eifersüchtige Ehemann in Magdalena und der Mann mit den schönen Fingernägeln (1954) aus dem Fenster springen. Selbst der Teufel (Der Besuch, 1955) wirkt in dieser Welt als nicht bedrohlicher Außenseiter, da die Figuren das absolut Böse nicht kennen. Rosendorfer desillusioniert äußerst kritisch die Zuversicht auf gesellschaftliche Neugestaltung in Das Zwergenschloß (1982). Die Novelle setzt ein mit einem „unerhörten Ereignis“. Ein Kind kommt zur Welt. Das Mädchen Flavia ist verwachsen und wird nie normal groß werden. Der Vater Luigi, dessen Frau ihn nach der Geburt der Tochter verlassen hat, weiß: Er kann die Natur des Kindes nicht ändern. Er beschließt deshalb, er werde „die Welt zurechtbiegen.“7 Er umgibt Flavia mit Angestellten, Zwergen, völlig neu geschriebenen Büchern, Bildern und Statuen von Heinzelmännchen. Die Umwelt wird völlig neu gestaltet. Nicht geplant in der neuartigen Wirklichkeit bleibt sein Tod. Luigi stirbt. Die Mutter wird Vormund und Flavia folgt dem Vater nach einer Woche. Das Fazit: Das Anderssein ist Teil der Gesellschaft. Jede Reform von Bestand muss beim Einzelnen beginnen.

      Peter RoseisRosei, Peter Reiseaufzeichnungen (Fliegende Pfeile, 1993) sind scharf präzisiert. Die Einzelheiten werden befestigt aus der Sicht eines Beobachters, der jedem Eindruck gegenüber aufnahmebereit ist, aber zugleich alles durch ständige Vergleiche mit der literarischen und philosophischen Tradition bewertet. Jedes Sehen geht über in ein bewusstes Anschauen; jedes Anschauen führt zum Verstehen. Die Aufzeichnungen werden eine Besichtigung der europäischen Kulturlandschaft, die von der Tradition belebt ist. Meer, Strand, Fischer, Händler, Bettler, Szenen aus Almdorf und Prag und selbst Beobachtungen im Schlafwagen8 werden durch Hinweise auf Turgenjew, den Rabbiner Löw, KafkaKafka, Franz, Canetti und andere erweitert. Dieser Überblick des RaumsRaum vermittelt ein „Gefühl von Glück“. Der Beobachter kann sehen und im Dialog mit der Tradition bestehen.