Eva Andersen

Versteckt im Dunkeln


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Eva Andersen

      Kapitel 1

      „Mama, Mama, Hilfe!“

      Die Schreie zerrissen die Stille des warmen Juninachmittags. Sie drangen bis zu Grethe, die im Waschraum stand, und dabei war, die frisch gewaschenen Pferdedecken ordentlich wegzulegen. Sie meinte zu spüren, wie ihr das Herz kurz stehen blieb. Es war Emily, die schrie.

      „Mama, Papa ist gestürzt, beeil dich, komm!“

      Grethe ließ alles fallen und rannte zum Reitplatz. Aus dem Augenwinkel sah sie ein Pferd panisch den Waldweg hinunter galoppieren, Richtung Wald. Die Bügel und die Steigbügelriemen flatterten vom leeren Sattel.

      Was war passiert? Vom weitem sah sie Olaf bewegungslos im Sand liegen. Emily saß ganz still daneben. Grethe wurde noch schneller und sprang vom Gras auf den Reitplatz und hinüber zu der Stelle, an der Olaf lag. Sie beugte sich tief über ihn und horchte nach seinem Atem.

      ‚Gott sei Dank, er atmet noch’, dachte sie.

      „Olaf, Olaaaf“, – Grethe strich ihrem Mann vorsichtig über die Wange. „Wach auf, Olaf!“, aber Olaf antwortete nicht, er war bewusstlos. Grethe brachte ihn vorsichtig in die stabile Seitenlage.

      „Emily, ruf einen Rettungswagen“, rief Grethe atemlos, „beeil dich!“

      Emily war dafür bekannt, dass sie sehr schnell laufen konnte. Schnell war sie beim Haupthaus angekommen. Ihre Beine brannten, sie rannte wie verrückt und wäre fast über die Eingangsstufe gestolpert. Ihr langes, hellblondes Haar verhedderte sich in der Türklinke, aber sie spürte es kaum. Mit einem Ruck war sie frei, konnte das Telefon greifen und 112 wählen. „Hallo, hier ist Emily vom Borghof. Mein Vater ist vom Pferd gestürzt und bewegt sich nicht mehr, er ist bewusstlos, ihr müsst euch beeilen“, bettelte sie, während ihr die Tränen über die sonnengebräunten Wangen liefen.

      „Ganz ruhig“, sagte der Mann am anderen Ende des Telefons. Er fragte nach der Adresse und versprach Emily in wenigen Minuten da zu sein. In ihrer Verwirrung legte Emily das Telefon wieder auf den Tisch und lief schnell zurück zu ihrer Mutter.

      „Die sind sofort hier“, rief sie ihrer Mutter zu, die noch bei ihrem Vater saß.

      Nur wenige Minuten später hörte man die Sirenen des Krankenwagens in der Ferne heulen. Der Borghof war einfach zu finden. Zwar lag der Hof hinter Pferdekoppeln, die von großen Bäumen umgeben waren, aber auf dem großen Schild direkt an der Straße standen ganz deutlich die Hausnummer und alles, was der Borghof zu bieten hatte. „Pferdebetrieb Borghof – Reitschule – Ausbildung von Pferden – Ausbildung von Reitern“ stand da in großen weißen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund.

      Der Rettungswagen heulte laut den Feldweg entlang. Der trockene Sand wirbelte in einer Wolke um das Auto herum, aber Emily konnte sehen, dass die Sanitäter die Tür schon aufgemacht hatten, bevor der Rettungswagen ganz zum Stehen gekommen war. In Sekundenschnelle hatten sie auch die Trage bereit. Die Sanitäter überprüften Olafs Atmung und stellten erleichtert fest, dass er noch atmete.

      Dann also nichts wie los! Mit einem Spezialgriff hoben die Sanitäter Olaf auf die Trage und dann in den Rettungswagen. Emily und Grethe durften sich neben Olaf auf die kleinen Beifahrersitze setzen. Emilys Mutter, die groß und schlank war, hatte ein paar alte Arbeitshosen von Olaf an, die so groß waren, dass sie darin zu verschwinden drohte. Ihre kurzen blonden Haare hatte sie unter einem Tuch versteckt.

      Emily hatte wie immer ihre Reithose und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Reitschule Borghof“ an. Sie war ganz schwarz im Gesicht, da wo sich die Tränen mit Staub vermischt hatten. Aber das störte keine der beiden. Jetzt drehte sich alles um Olaf. Emily drückte nervös die Hand ihrer Mutter. Grethe schaute ihre 13-jährige Tochter an. Beide fürchteten das Schlimmste. Auf der anderen Seite der Trage saß der Rettungssanitäter. Er war dabei Olaf eine Maske aufzusetzen.

      „Die Sauerstoffmaske hilft ihm beim Atmen, falls irgendetwas in seiner Lunge zusammengedrückt ist“, erklärte er und zeigte auf Olafs Brust. „Glücklicherweise sieht es meistens schlimmer aus, als es ist.“

      ‚Was weiß der schon’, dachte Emily. Für sie sah es ziemlich ernst aus. Das Gesicht ihres Vaters war eine einzige Schürfwunde. Vom Hals aufwärts bis zur Haarlinie saßen kleine Steine in der Haut unter dem Blut, das in kleinen Rinnsalen an Olafs Gesicht herunterlief. Emily schaute verängstigt ihre Mutter an.

      „Meinst du, Golden hat ihn am Kopf getroffen?“

      „Das weiß ich nicht, Emily.“ – Golden! Plötzlich sah Grethe wieder das davongaloppierende Pferd auf dem Feldweg vor sich.

      „Ist er Golden geritten? Ich dachte, er wollte ihn nach der kleinen Verletzung erst eine Zeit longieren, bis er sich etwas beruhigt hat.“

      „Ja“, sagte Emily. Sie war noch nicht dazu gekommen, ihrer Mutter zu erzählen, was passiert war.

      „Er ritt ganz ruhig im leichten Sitz, als Golden plötzlich wie verrückt zu bocken begann. Papa versuchte ihn zu beruhigen, dann hat er aber den Zügel verloren und Golden dachte, es wäre alles ein Riesenspaß. Er hat einen gewaltigen Satz gemacht und in der Luft noch mal richtig mit den Hinterbeinen ausgeschlagen. Zum Schluss hat Papa das Gleichgewicht verloren und ist runtergefallen. Golden stand erst ganz still, aber als ich nach dir gerufen habe, da hat er sich erschreckt und ist Richtung Wald gelaufen. Hoffentlich passiert ihm nichts, er hat ja noch Sattel und Trense drauf“, sagte Emily nervös.

      „Wir können momentan nichts dagegen tun“, sagte Grethe leise und ärgerte sich, dass sie in der Eile ihr Handy nicht mitgenommen hatte. Aber bald würde Michael wieder da sein und merken, dass Golden fehlte. Der Stallmeister Michael war unterwegs zur Futtermittelhandlung um Lecksteine für die Koppeln zu holen.

      Der Rettungswagen fuhr durch das große Tor des Krankenhauses direkt vor die Notaufnahme, in der man schon Bescheid wusste. Die Sanitäter hatten dort angerufen und zwei Ärzte standen bereit, um sich um den Verletzten zu kümmern.

      Als die Ärzte ihn von der Trage auf das kleine Bett im Untersuchungsraum legten, bewegte Olaf sich immer noch nicht. Sein langer, schlanker Körper war ganz schlaff. Die Arme und die sonnengebräunten Hände hingen über die Seiten des Bettes herunter. Grethe hob seine Hände hoch und legte sie über seine Brust. Olaf sah völlig leblos aus. Das braune, lockige Haar, das ein bisschen lang geworden war, klebte an seinen Schläfen. Seine Augen waren geschlossen. Seine dunklen Augenbrauen waren voller Sand.

      „Olaf“, sagte Grethe und berührte seine Wange. Es kam keine Antwort. Wie schlimm war sein Zustand wirklich? Grethe spürte, wie sie innerlich immer unruhiger wurde.

      Sie half den Krankenschwestern Olafs Reitstiefel auszuziehen. Zum Glück waren es seine alten, ausgeleierten Stiefel, die Olaf anhatte. Aber auch die saßen immer noch so eng, dass die Strümpfe mit den Stiefeln zusammen hinunterrutschten. Emily berührte die Füße ihres Vaters. Er hatte Schuhgröße 44. Seine Füße waren lang und schmal, genau wie seine Hände.

      Zwei Ärzte fingen sofort an, den bewusstlosen Mann zu untersuchen. Sie maßen seinen Puls und beobachteten die Atmung.

      „Ich glaube, er hat Glück gehabt“, sagte einer der Ärzte nach der Untersuchung. „Das Pferd scheint ihn nicht am Kopf getroffen zu haben. Hier ist eine Vertiefung“, er zeigte auf einen Punkt ganz nahe an der Schläfe, „aber es ist nicht von einem Huf. Er ist eher auf einen Stein gefallen. Allerdings hat er wohl keinen Helm aufgehabt, sonst wäre das nicht passiert.“

      „Warum kommt er nicht wieder zu Bewusstsein?“, fragte Emily ungeduldig.

      „Das tut er hoffentlich bald“, antwortete der Arzt.

      „Was meinen Sie mit ‚bald‘?“ Emily war nicht zufrieden mit der Antwort.

      „Tja, ich weiß nicht“, sagte der Arzt. „Ich glaube, er hat eine ernsthafte Gehirnerschütterung, aber wir müssen erst Röntgenaufnahmen machen, damit wir mit Sicherheit wissen, dass an seinem Kopf nichts kaputt ist. Allerdings fühlt es sich nicht so an.“ Er drückte weiter vorsichtig an Olafs Kopf herum.

      ‚Das ist furchtbar’, dachte Emily und bekam eine Gänsehaut. Sie war schon unzählige Male von ihren Ponys gefallen. Olaf hatte immer gelacht und sie direkt wieder raufgesetzt mit den Worten: „Das musst du wegreiten.