Tone Kjærnli
Und wer küsst mich?
Aus dem Norwegischen
von Christel Hildebrandt
Lindhardt und Ringhof
1
Ich, Nina Ruud, elf Jahre, drei Monate und zwei Wochen alt, wohne in so einem alten Kasten, einem richtigen Geldfresser. So nennt jedenfalls Mutter unser Haus. Vater versucht alle undichten Stellen im Dach, die Risse in den Kellermauern und ich weiß nicht, was sonst noch zu reparieren, so gut er kann. Aber so gut kann er es eben doch nicht. Ausgerechnet heute Nachmittag war er wieder mal dabei, auf dem Dachboden zu hämmern und klopfen, zu stöhnen und fluchen, dass man es bis in den Garten heraus hören konnte. Mutter war nicht besonders glücklich darüber, denn es ist Sonntag, und Frau Bang-Hansen von nebenan mag es gar nicht, wenn sonntags gearbeitet wird.
Wir haben das Haus von meinen Großeltern geerbt. Es ist fast hundert Jahre alt. Synne, die in meine Klasse geht und auch in unserer Straße wohnt, sagt, dass es das hässlichste Haus ist, das sie je gesehen hat, schief, spitz und merkwürdig. Typisch Synne. Sie muss ihr Krötenmaul immer aufreißen. Und außerdem möchte ich mal wissen, wie sie als Hundertjährige wohl aussieht. Sicher genauso schief und merkwürdig. Und genauso undicht wie das Dach.
Mutter und ich rekelten uns in unseren Liegestühlen in der warmen Nachmittagssonne. Ich versuchte mit aller Macht, noch ein bisschen braun zu werden, denn morgen sind die Sommerferien zu Ende und die Schule fängt wieder an, und ich wollte mich ein einziges Mal mit brauner Haut und nicht nur mit Sommersprossen zeigen können. Vom Haus her war eine Reihe schneller Hammerschläge zu hören. Dann kam ein fürchterliches Geheul, das die Krähen im Kirschbaum aufscheuchte und zu panischer Flucht veranlasste.
»Nein, so was, hast du den Vogel gehört?«, fragte Mutter im Halbschlaf. »Wie grässlich er geschrien hat.«
»Das war kein Vogel«, sagte ich. »Das war Papa.«
Mutter sprang auf, rief: »Hast du dir weh getan, Thorvald?«, und lief hinein. Ich hinterher. Ganz oben auf der Dachbodentreppe saß Vater und lutschte an einem geschwollenen Daumen, die spärlichen Haare standen ihm zu Berge. Niemand mit so wenig Haaren kann so zerzaust aussehen wie mein Vater. Darin ist er Meister. Leider kann man über seine Fähigkeiten als Tischler nicht dasselbe sagen.
»Verfluchter Hammer«, sagte Vater, und Mutter warf mir einen raschen Blick zu, als ob ich nicht schon Schlimmeres gehört hätte, vom Rolf aus meiner Klasse beispielsweise.
In diesem Augenblick durchdrang das Geheul einer elektrischen Gitarre das Haus.
»Hilfe«, sagte Mutter, »jetzt wird gleich Frau Bang-Hansen anrufen und sich beschweren. Nina, geh mal runter und bitte Fredrik, ein bisschen leiser zu spielen.«
Ich ging wieder ins Erdgeschoss und öffnete die Tür zu Fredriks kohlrabenschwarzem Zimmer. Ja, ihr habt richtig gelesen: kohlrabenschwarzes Zimmer. Die Schwarze Höllennacht, wie ich es nenne. Es war nämlich vor einiger Zeit, als es am allerheißesten war, da ist Fredrik in seinem Zimmer verschwunden und hat es gestrichen. Total schwarz. Wir anderen ahnten nichts. Wir lagen im Garten, schwitzten und keuchten und duschten uns alle fünf Minuten mit dem Gartenschlauch.
»Wo zum Teufel ist Fredrik?«, fragte Vater. »Er muss bei diesem schönen Wetter doch auch mal rauskommen?«
Ich ging hinein und sah, was Fredrik tat, ging wieder hinaus und sagte, dass er in der rechten Ecke der Schwarzen Höllennacht sei. Am Fenster.
»He?«, fragte Vater, und dann roch er den Farbgeruch und die Stirn fiel ihm über die Augen. Er kam mühsam auf die Beine und schlich sich hinein, Böse Ahnungen mit Schweiß auf den sonnenverbrannten Rücken geschrieben.
Eine halbe Minute.
Dann kam’s.
Ein Schrei.
Vater schrie und taumelte rückwärts wieder heraus. Oh, oh, oh, direkt in die Arme von Mutter. Die auch nicht gerade absolut begeistert war.
»Das ist das Alter«, sagte sie.
»Ja, aber ich war auch mal fünfzehn und ich habe deshalb nicht die Zimmer schwarz angemalt, total schwarz«, schluchzte Vater.
»Nein, du nicht«, sagte Fredrik, und das hörte sich an, als ob Vater bereits als Fünfzehnjähriger Kugelbauch und Halbglatze gehabt hätte und total out gewesen wäre.
Und jetzt stand Fredrik in der Schwarzen Höllennacht und spielte Gitarre, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Er verschwand vollkommen unter seinen Haaren, nur die Nase ragte hervor und mitten auf ihr thronte im Augenblick ein fetter, roter Pickel.
»Für Holzköpfe verboten!«, rief er, als er mich erblickte.
»Dein Pickel ist noch größer geworden, dass du es nur weißt«, sagte ich.
»Verschwinde, du Null!«
»Mutter sagt, dass du nicht so laut spielen darfst.«
»Das muss ich, wenn es was werden soll. Hau ab.«
Das Telefon klingelte. Ich hörte, wie Mutter sich für den Lärm entschuldigte. Aber natürlich musste sie für Fredrik um Nachsicht bitten, typisch, sie sagt immer, dass wir nicht schimpfen sollen, weil er doch in Dem Schwierigen Alter ist. Und wie Fredrik das auszunutzen weiß!
»Sie müssen verstehen, er übt für eine Aufführung im Jugendclub«, sagte Mutter. »In diesem Alter müssen sie sich ja ein wenig austoben dürfen. Ist doch nur gut, wenn sie das wenigstens zu Hause tun. Ja, ja sicher, ja, dann auf Wiederhören.«
Mutter schaute durch die Tür herein. »Frau Bang-Hansen hat sich wieder beschwert. Fredrik, sei doch so gut. Du kriegst hinterher auch eine Cola, wenn du ein bisschen leiser spielst.« Ich ging hinaus. Ich hatte nämlich die letzte Cola genommen und wollte lieber nicht dabei sein, wenn Fredrik das entdeckte. Da sah ich, dass Heidi und ihr Anhang endlich aus den Ferien zurückgekommen waren. Der Caravan stand in der Garageneinfahrt, und Heidi, ihre Mutter und Svein, Heidis Stiefvater, trugen stapelweise Tennisschläger, Campingstühle und sonst was ins Haus.
Ich rannte über den Rasen, nahm die Abkürzung durch das Loch in der Hecke und trat fast auf Frau Bang-Hansens Mistköter, der gerade auf dem Weg in unseren Garten war, um dort zu scheißen. Dieser Köter. Vater meint, Frau Bang-Hansen hätte ihm bestimmt beigebracht, das zu tun, aus Rache. Sie würde sicher sagen: »Willst du raus, Goldi? Raus und Kacka machen? Dann lauf rüber in Ruuds Garten. Ja, gut so. Braver Hund.«
Als Heidi mich sah, ließ sie sofort alles aus den Händen fallen. Sie hob ihr T-Shirt hoch und schob die Jogginghose so weit nach unten, dass ich ihren prachtvollen braunen Bauch bewundern konnte.
»Guck mal, wie braun ich bin!«
Ihr Haar war von der Sommersonne fast weiß geworden. Sie warf es mit einer schnellen Kopfbewegung aus ihrem gebräunten Gesicht und sah mich kritisch an.
»Du bist ja überhaupt nicht braun geworden!«
»Ich hab nur Sommersprossen gekriegt«, sagte ich traurig.
»Oh, du Arme«, meinte Heidi.
»Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr zurück«, sagte ich.
»Aber jetzt bin ich da!« Heidi lächelte.
»Ja«, sagte ich. »Zum Glück.«
Dann sagten wir eine Weile gar nichts mehr. Es ist immer irgendwie schwierig, wieder miteinander bekannt zu werden, wenn wir uns mehrere Wochen lang nicht gesehen haben. Obwohl Heidi und ich uns wahnsinnig gut kennen, denn seit unserem siebten Lebensjahr, als Heidi hierher gezogen ist, sind wir die besten Freundinnen. Wir werden nur jedes Mal ein wenig unsicher. Jedenfalls werde ich es.
»Ich muss dir was erzählen«, sagte Heidi mit einem Mal und zog mich mit sich hinters Haus. Wir legten uns ins Gras, das in den Wochen, die sie fort waren, ziemlich gewachsen war. Heidi kugelte herum und sah auf die Erde.
»Ich habe einen Freund gefunden. So ganz richtig.«
»Wirklich!«