Anja Michl

Wenn Träume wahr werden


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Künstlichen sein?

      Obwohl ich Sonya, die immer viel zu viel Parfüm auftrug, nicht ausstehen konnte, musste ich zugeben, dass sie eine Koryphäe auf ihrem Gebiet des Nageldesigns war. Die Kundinnen standen Schlange bei ihr. Wie auch jetzt. Ich war umgeben von lauter Frauen, die auf ihren Termin warteten. Da ich der einzige Mann in dem Zimmer war, kam ich mir ziemlich fehl am Platz vor. Aber Victoria musste mich ja unbedingt überreden, mitzukommen. Und ich hatte mal wieder ihr zuliebe ja gesagt.

      Ich wusste nicht, wie ich die Wartezeit verbringen sollte – mein Handy war leer und im Wartezimmer lagen nur Frauenzeitschriften aus. Also begann ich wieder über die Anfangszeit unserer Beziehung nachzudenken:

      Am nächsten Tag, nachdem Victoria in meinem Bett geschlafen hatte, frühstückten wir zusammen und suchten dann im Internet gemeinsam nach einem günstigen Hostel für sie. Den Kuss, welchen wir letzte Nacht geteilt hatten, erwähnte keiner von uns. Gar nicht lange und wir fanden eine geeignete Unterkunft mitten in der Innenstadt, zufällig recht nah an meiner Wohnung. Sie rief dort an und mietete sie erst einmal für eine Woche.

      Nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie mich an und sagte:

      "Für eine Woche reicht mein Budget. Aber wenn ich länger bleibe und innerhalb einer Woche noch nichts als Model verdient habe, brauche ich einen Nebenjob! Ich habe leider nicht so viel Erspartes mitgenommen, weil ich dachte, dass ich auf jeden Fall den Job bekomme, bei dem ich dann als Model entdeckt werde und das große Geld verdiene." Victoria verdrehte genervt die Augen.

      "Ich bin aber auch eine blöde Kuh so naiv zu sein…"

      Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ehrlich gesagt fand ich diese Einstellung auch naiv, aber das wollte ich ihr natürlich nicht sagen, um sie nicht zu kränken. Also ging ich zu ihr.

      "Wenn du willst, könnte ich meinen Chef mal fragen, ob du bei uns in der Kaffeerösterei anfangen kannst."

      Sie sah zu mir auf.

      "Wirklich?"

      "Naja, ich muss, wie gesagt, erst fragen… Hast du denn schon mal im Gastronomiebereich gearbeitet?"

      "Hm… leider nein... Aber ich lerne schnell. Und der Kontakt mit Gästen wird mir bei den Castings fürs Modeln helfen."

      Jetzt war sie aufgestanden und stand vor mir. Ihr Blick war wieder zuversichtlicher.

      "Ich muss heute um 13 Uhr zur Arbeit. Du könntest mitgehen und dich persönlich bei meinem Chef vorstellen. Vielleicht wirst du schon ab morgen anfangen können."

      In diesem Moment fühlte ich mich mutig, deswegen fügte ich noch ein "Es würde mich freuen, dich öfter zu sehen" hinzu.

      Sie lächelte mich an. Am liebsten hätte ich sie jetzt wieder geküsst.

      "Ich will dich auch öfter sehen, Leon."

      Die Art, wie sie meinen Namen sagte, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Sie stand jetzt ganz dicht vor mir. Wir beide sahen uns tief in die Augen. Blau in Blau. Ich streckte eine Hand aus und berührte zärtlich ihre Wange. Dann beugte ich den Kopf nach vorne und dann… wurde die Stille von einem Handyklingelton zerrissen.

      So ein Mist! Innerlich fluchte ich. Wer auch immer da anrief, hatte wirklich ein super Timing! Allerdings war es nicht mein Klingelton, also musste es Victorias Handy sein, das uns gestört hatte. Sie wich ein Stück von mir zurück und sagte verkniffen:

      "Tut mir leid, ich muss kurz schauen, wer das ist. Es könnte eine Modelagentur sein."

      Also ging sie zu ihrer Handtasche im Flur. An ihrem verärgerten Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie nicht erfreut über den Anrufer war.

      "Nicht schon wieder!", fluchte sie und drückte den Störenfried weg.

      "Alles okay? Wer war es denn?" Sie kam wieder zu mir ins Wohnzimmer.

      "Ach, mein Vater wieder. Er hat gestern schon angerufen. Er soll mich einfach in Ruhe lassen!"

      "Hm, meinst du nicht, du solltest ihm wenigstens sagen, dass es dir gut geht? Dann macht er sich keine Sorgen."

      Ungläubig sah sie mich an.

      "Nein! Ich will nicht mit ihm reden!" Sie packte ihre Sachen. "Ich gehe jetzt ins Hostel, checke ein und bin dann um 13 Uhr in der Kaffeerösterei. In Ordnung?"

      "Äh, ja okay."

      Ich war enttäuscht, dass der schöne Moment vorbei war.

      Mein Chef war von Victoria sofort begeistert und stellte sie zur Probe ein. Sie bekam von Peer – so hieß mein Chef – eine kurze Einweisung, wie sie die Gäste zu bedienen hatte und ich erklärte ihr, wie die Kaffeemaschine funktionierte.

      Dann hatte sie zwei Stunden Zeit sich vor Peer zu beweisen. Er beobachtete sie mit Argusaugen, damit ihm jeder noch so kleine Fehler sofort auffiel. Ja, er war streng, aber wenn man sich bei der Arbeit wirklich Mühe gab, kam man gut mit ihm klar. Er wollte eben nur die engagiertesten Mitarbeiter für seine Kaffeerösterei! Schließlich zählten wir nicht umsonst zu einem der besten Cafés in der Speicherstadt. Meiner Meinung nach schmeckte der Kaffee nirgendwo anders so gut, wie bei uns. Was vielleicht auch daran liegen mochte, dass wir eine hauseigene Röstung verwendeten.

      Ich selbst arbeitete hier seit ich 17 Jahre alt war. Ich suchte damals in der Schule einen Nebenjob, um mir meinen Gitarrenunterricht leisten zu können. Dadurch kam ich hierher und entdeckte meine Leidenschaft für Kaffee. Auch liebte ich den Umgang mit den Gästen. Im Gastronomiebereich fühlte ich mich einfach wohl. Deshalb blieb ich auch nach Abschluss meines Abiturs hier und erhöhte von einem Nebenjob auf einen Vollzeitjob.

      Meine Mutter war zwar alles andere als begeistert, als ich ihr eröffnete, dass ich auf keine Universität gehen wollte, um zu studieren, doch nach einiger Zeit akzeptierte sie meinen Wunsch. Sobald ich genug Geld verdient hatte, wollte ich mir eine eigene Wohnung suchen. Da meine Mutter jedoch darauf bestand, dass ich nicht zu weit wegzog, kaufte sie kurzerhand eine Wohnung in Altona und ließ mich dann darin zur Miete wohnen. Natürlich etwas günstiger als zu den sonst so horrenden Preisen. Als Barista hätte ich mir nämlich nie und nimmer eine Mietwohnung in Hamburgs beliebtestem Stadtteil leisten können. Dadurch, dass ich ausgezogen war, entspannte sich unser Verhältnis merklich.

      Das war gut, da mir, als ich noch bei ihr wohnte, ihre ewige Kritik an mir – "Leon, bitte steck dein Hemd ordentlich in die Hose!", "Geh studieren, so wie ich!" oder "Lass deine Kleidung nicht immer in deinem Zimmer liegen, sondern hänge sie in den Schrank!" – wirklich zum Hals heraushing. Doch seitdem ich in meinen eigenen vier Wänden lebte, hatte sie darauf zum Glück keinen Einfluss mehr.

      Nach den zwei Stunden Probearbeit, entschied sich Peer, Victoria einzustellen. Sie hatte sich wirklich wacker geschlagen. Wenn sie zu einem Casting eingeladen wurde, versuchten wir ihre Schichten so zu legen, dass sie zu diesem problemlos hingehen konnte. Notfalls musste jemand von uns mit ihr tauschen.

      Ich ging zu ihr – sie strahlte, weil sie in so kurzer Zeit einen Job gefunden hatte – und umarmte sie.

      "Glückwunsch, das hast du echt toll gemacht!", flüsterte ich ihr ins Ohr. Grinsend sah sie mich an:

      "Das müssen wir feiern! Wann hast du heute Schluss? Danach lade ich dich auf einen Drink ein!"

      Mein Herz machte einen Satz. Ich freute mich sehr, dass sie mich später wiedersehen wollte.

      "Sehr gerne würde ich mit dir darauf anstoßen! Ich arbeite bis 18 Uhr."

      "Perfekt, dann gehe ich jetzt ein bisschen in die Stadt und hole dich dann um 18 Uhr hier ab. Bis dann, Leon! Ich freue mich!"

      Ich konnte es gar nicht abwarten, bis Schichtende war und ich mit dieser tollen Frau auf ihren Erfolg anstoßen konnte! Wer weiß, ob es beim Anstoßen bleiben würde…

      Um Punkt 18 Uhr stand Victoria in der Eingangstüre des Cafés und ich musste mich höllisch konzentrieren, das Tablett mit dem Latte Macchiato und dem Espresso darauf nicht fallen zu lassen, welches ich gerade zum Tisch des älteren Ehepaars balancierte.

      Ihr Aussehen