Rudolf Burger

Im Namen der Geschichte


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      Rudolf Burger

      Im Namen der Geschichte

      Vom Mißbrauch

       der historischen Vernunft

      © 2007 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

      [email protected] · www.zuklampen.de

      Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover

      Umschlagfoto: © ackab – Fotolia.com

      Satz: thielenVERLAGSBÜRO, Hannover

      1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

      ISBN 978-3-86674-380-9

       Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

      Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

      Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

      Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

      INHALT

       Cover

       Titel

       Impressum

       Vorrede

       I

       Der neue Historismus

       Das elfte Gebot

       Lehren der Geschichte?

       II

       Konfundierungen

       Der lange Schatten der Theologie

       Sinngebungsversuche

       Von der Strenge der Wissenschaft

       Resumee

       Anmerkungen

       Ausgewählte Literatur

       Nichts ist verständlicher als der Haß,

       doch seien Sie nicht verlogen!

      Jacques Vergès

      Im Gespräch mit Euthyphron, einem frommen Mann und Priester, der Kraft seines Amtes zu wissen glaubt, was das Gute, das Edle und das Gerechte sei und deshalb auf dem Wege ist, seinen eigenen Vater zu denunzieren, durch dessen Mißgeschick ein Mensch zu Tode kam, läßt Platon den Sokrates sagen:

      »Worüber also müßten wir uns wohl streiten und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden? Vielleicht fällt es dir eben nicht bei: allein, laß es mich aussprechen und überlege, ob es wohl dieses ist, das Gerechte und Ungerechte, das Edle und Schlechte, das Gute und Böse. Sind nicht dies etwa die Gegenstände, worüber streitend und nicht zur völligen Entscheidung gelangend wir einander feind werden, sooft wir es werden, du und ich sowohl als auch alle übrigen Menschen?«1

      Ich sehe nicht, wie das je anders werden könnte. Denn es erscheint mir gewiß: Solange Menschen existieren, die den Namen Menschen verdienen, werden sie darüber streiten, was in konkreten Lagen gut ist und was böse. Und sie werden für ihre Überzeugungen auch kämpfen, wenn es sein muß, auf Leben und Tod. Selbst wenn alle Menschen einmal Schwestern werden sollten und Brüder, würde sich daran nichts ändern: Die Atriden waren auch eine große Familie. Der Skeptiker ist vor dieser polemischen Verwicklung nicht gefeit, im Gegenteil, er ist in besonderer Weise in sie involviert. Aber indem er sie reflektiv zu seinem Thema macht, versucht er ihren Konsequenzen die Schärfe zu nehmen: Das Gute ist auch für den Skeptiker das Gute, aber der Glaube zu wissen, was es sei, ist ihm das Böse – weil dieses im Eifer der Realisierung des Guten selber liegt, worin immer es bestehen mag. Deshalb sucht er zu jeder These die Antithese, also die »Gewaltenteilung im Absoluten« (Odo Marquard).

      Wir wissen heute, oder könnten es wissen: Alle großen Verbrechen entspringen großen Idealen, nicht dem bösen Willen, die Täter verfolgen aus ihrer Binnenperspektive immer »das Gute«, ihr Antrieb ist stets eine »Begierde des Rettens« (Hegel) und sie sind um Objektivierungen nie verlegen, hießen diese Rasse, Klasse, Volk oder Nation: Man kann dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus vieles nachsagen, aber nicht, daß sie keine »Wertegemeinschaften« gewesen seien – der Kommunismus als Ideal war eine »Wertegemeinschaft« sogar im wörtlichen Sinne. Heute mobilisiert man im Namen der »Menschlichkeit«, was den Gegner implizit zum Unmenschen erklärt. Die fürchterlichsten Massaker wurden niemals von Skeptikern oder Nihilisten verübt, sondern von Gläubigen und Utopisten, im Namen von mächtigen Idealen. Deren Inhalte und Formen wechseln, sie hatten im 17. Jahrhundert die Gestalt von Religionen, im 20. Jahrhundert die politischer Ideologien; und wenn nicht alles täuscht, so schließt sich der Kreis und die Moderne kehrt zu ihren fideistischen Ursprüngen zurück. Das fällt umso leichter, als sie diese in einem zentralen Punkt nie verlassen hat: in ihrem Glauben an die Geschichte – an ihre Wahrheit, ihre Lehren, ihren moralisch verpflichtenden Sinn.

      Die heiligen Bücher der Juden, der Christen und Muslime sind zunächst und vor allem historische Berichte, die wörtlich genommen sein wollen; erst die Theologie machte Metaphern daraus, und diese wurden zu Bausteinen der Geschichtsphilosophie, mit der empirischen Historiographie als Mörtel. Die prophetisch gewendete Geschichtsphilosophie ist heute politisch desavouiert, aber die Autorität der Geschichte ist ungebrochen als Stütze moralischer Legitimität. Es geht daher bei unseren skeptischen Überlegungen nicht nur um Geschichtsphilosophie in jenem Sinn, der seit dem 18. Jahrhundert in Geltung ist, es geht nicht nur um die holistischen Konstruktionen von »Weltgeschichte«, es geht auch um all die kleinen und großen, zeitlich und geographisch lokalen Partialgeschichten, Erzählungen von Begebenheiten, Ereignissen und Schicksalen von Gruppen und Individuen, die dadurch zu Gruppen und Individuen erst werden: Es ist verblüffend, wie sehr all die identitätsstiftenden Legenden, sie mögen noch so sehr empirisch »richtig« sein, strukturell jenen Märchen ähneln, mit denen man Kinder in den Schlaf wiegt: Sie haben einen Anfang, ein Ende und einen »Plot«, der den dramatischen Sinn des Geschehens ausmacht – aber wo ist in der Realgeschichte ein Anfang, wo ein Ende? Wann beginnt die Französische Revolution, wann endet sie? Beginnt sie mit der Einberufung der Generalstände oder mit dem Sturm auf die Bastille? Endet sie mit dem 9. Thermidor, dem 18. Brumaire oder erst mit Waterloo und dem Wiener Kongreß? Carlyle beginnt seine Geschichte der Französischen Revolution mit dem Tod Ludwig XV. und läßt sie enden mit der Niederschlagung