Prof. Dr. Claudio Caduff

Lernen (E-Book)


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in dem Wissen und Handeln eins sind (zum Beispiel Autofahren).

      In seiner Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Mainstream des selbstgesteuerten Lernens kritisiert Mathias Burchardt (2016, S. 124 f.) die Absolutsetzung gewisser Aspekte in «modernen» Lerntheorien. Besonders populär sind heute Formulierungen wie Potenzialentfaltung, Problemlösung, Kompetenzerwerb oder Konstruktion, die zum Beispiel die Aktivität des Individuums einseitig betonen und dabei andere bedeutende Aspekte wie zum Beispiel die Sozialdimension des Lernens ausser Betracht lassen. Als Gegenposition beschreibt er fünf «Elementarphänomene» menschlichen Lernens (S. 126 f.):

      1.Sachklärung und Selbstwerdung: Lernen geschieht unter dem Anspruch der Sache, sei es die Grammatik einer fremden Sprache, das Modell des Zitronensäurezyklus, das Angaloppieren eines Pferdes oder die Funktionsweise eines Computers. Sach-Gehorsam im Wahrnehmen, Denken und Handeln ist ein Ausgangspunkt und leitendes Kriterium des Lernens. Wer sich um Sachgerechtigkeit sorgt, wird niemals selbstgerecht in einem anmassenden Sinn, wohl aber gelangt er im Dialog mit der Sache zu sich selbst. Sachklärung und Selbstwerdung sind im Lernen ineinander verwoben.

      2.Individualität und Gemeinschaft: Sache und Selbst begegnen sich im Lernen immer eingebettet in konkrete Beziehungen: Es ist die Mutter, die mir zeigt, wie ich das Besteck verwende, der Spielkamerad, der mich in die Tücken des Dribbelns einweist und die strenge Lateinlehrerin, die mit mir den a.c.i. [Accusativus cum infinitivo] paukt. Eingebettet aber sind diese personalen Beziehungen in einen Horizont gemeinschaftlicher Lebensdeutungen und Werthaltungen, die mir in der konkreten Lernsituation begegnen. Lernen geschieht in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft, aber auch um meiner selbst willen. Am Anderen werde ich zum Ich.

      3.Tradition und Emanzipation: Lernen geschieht in Geschichte und als Geschichte, es vermittelt Herkunft und Zukunft. Erst die Einbettung in das Herkommen [den Ursprung] ermächtigt das Lernen zum Bruch mit überkommenen Überzeugungen, zur Übernahme oder Modifikation von Beständen des Wissens und Könnens. Lernen macht mich zu einer Gestalt und einem Gestalter von Geschichte.

      4.Spontaneität und Responsivität: Das Lernen kann seinen Anfang in mir haben. Dann folgt es einem Entschluss, unterliegt der Planung meines Willens und dem Stil der von mir gewählten Vorgehensweise. Doch nimmt es aus diesem Anfang nicht zwangsläufig seinen glücklichen Verlauf. Immer spielt auch ein Moment der Widerfahrnis mit in das Lernen hinein, eine Konfrontation mit dem Sach-Anspruch, auf den ich entsprechend antworten muss: Die Rechnung geht nicht auf, das Metrum in der Gedichtanalyse fügt sich nicht meinen Erwartungen, die Farbe im Kunstunterricht trocknet zu schnell. Es kommt dabei vor, dass ich ohne Absicht oder gegen meinen Willen etwas lerne.

      5.Thema und Horizont: Das Lernen richtet sich immer auf ein Thema, denn die oder der Lernende will etwas oder sich auf etwas verstehen. Die Ausrichtung auf das Etwas vollzieht sich im Horizont von bekanntem Wissen und Können, von biografischen Erlebnissen, kulturellen Werthaltungen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten, die sich in der oder im Lernenden sedimentiert haben. […] Aber der Horizont ist nicht nur als Faktor des Lernens von Bedeutung. Indem ich etwas lerne, verändert sich der Horizont.

      In ihrer Untersuchung zur Lernforschung im 20. Jahrhundert führen Murphy und Knight (2016) 17 explizite Definitionen von Lernen (S. 407–410) und zahlreiche Operationalisierungen von Lernen im Kontext von Forschungsarbeiten auf und stellen dabei fest: «Perhaps the most telling trend evident in the coded studies was that learning must be observable and enduring» (S. 425). Ferner bemerken sie (S. 428 f.), dass die spezifische Konzeptualisierung von Lernen einen wesentlichen Einfluss auf Aussagen zu Lernergebnissen, Einflüssen aufs Lernen, Forschungsdesigns und so weiter hat. Die Theorie dient dem Forscher wie das Objektiv einem Fotografen. Es gibt keine Linse, die sich für alle Situationen eignet. Die Wahl der Linse bestimmt zum Beispiel die Tiefenschärfe und den Winkel des Bildausschnitts und der Fotograf kann mit zusätzlichen Filtern arbeiten. In ähnlicher Weise dienen Theorien dem Forscher dazu, die Aspekte einer spezifischen Studie einzuschränken. Wer für seine Forschung zum Beispiel eine behavioristische Linse wählt, wird den kognitiven Prozess des Lernens nicht untersuchen.

      Um die spezifischen philosophischen, psychologischen und lerntheoretischen Perspektiven einzuordnen, entwarfen Murphy, Alexander und Muis (2012) ein zweidimensionales Raster, das sie «erkenntnisbezogene Koordinaten» nannten, und in dem sie den lerntheoretischen Fokus von konkreten Forschungsprojekten zum Lernen situieren konnten. Die beiden Achsen beziehen sich auf zwei zentrale Fragen: Die horizontale Achse betrifft die Frage nach dem Ursprung des Wissens. Dieser liegt zwischen den Extremen «individuell erworben» und «sozial konstruiert». Die vertikale Achse bezieht sich auf die Frage nach dem Ort des Wissen. Dessen Werte liegen zwischen den Extremen «im Verstand des Individuums» und «in der Umwelt».

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      Die Quadranten im Koordinatensystem bezeichnen vier lerntheoretische Perspektiven als Basis von Forschungsprojekten im Bereich des Lernens und des Wissens (siehe Abbildung 1): Kognition, Kultur, Verhalten und Kontext.

      Für Murphy und Knight (2016, S. 430 ff.) lassen sich auf der Basis dieses Rasters grundsätzlich drei lerntheoretische Linsen bestimmen (siehe Abbildung 2): die behavioristische/biologische, die kognitive und die kulturelle/kontextuelle.

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      In den folgenden zwei Kapiteln stellen wir bedeutende Lerntheorien vor, ohne uns strikt an die Kategorisierung von Murphy und Knight zu halten. Entscheidend ist für uns die Idee, dass Theorien als Linsen dienen und gar nicht den Anspruch stellen (sollten), Lernen umfassend zu erklären. Damit umgehen wir das Problem, Theorien gegeneinander abzuwägen und entscheiden zu müssen, welche nun für die unterrichtliche Praxis besser sei. Vielmehr können wir jeder Theorie das entnehmen, was wir für das Lehren und Lernen im Unterricht als wichtig erachten.

      Da für das Lernen die Motivation ganz bedeutend ist, haben wir ihr ein eigenes Kapitel gewidmet. In dessen Zentrum stehen die Selbstbestimmungstheorie mit den Aspekten der intrinsischen und extrinsischen Motivation, die Bedeutung der Lernbiografie zum Beispiel in Bezug auf die Erfolgs- und Misserfolgszuschreibung und die Zielsetzung als wichtiges Element der Motivation.

      Im nächsten Kapitel wird als Erstes die Bedeutung von Wissen fürs Lernen erläutert, bevor die klassischen vier Wissensarten vorgestellt werden. Ausführungen zum Wissen über Aufgabentypen und Lernformen schliessen dieses Kapitel ab.

      Das Kapitel zum selbstregulierten Lernen schliesst diese Hausapotheke ab. Vor dem Hintergrund des Dreischichtenmodells von Monique Boekaerts (1999) wird erläutert, wie selbstreguliertes Lernen im Unterricht gefördert werden kann.

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