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Renata Schmidtkunz:
Himmlisch frei
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 edition a, Wien
Cover: JaeHee Lee
Satz: Isabella Starowicz
ISBN 978-3-99001-319-9
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Für meine Mutter Marianne Antonie
und meine Tochter Lena Marie Antonie
Inhalt
Die Entvölkerung des Himmels
∞
Wie mir das Thema dieses Buches bewusst wurde
Heutzutage, schreibt der deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk in seinen unter dem Titel Neue Zeilen und Tage erschienenen Notizen, rückt jeder, der lesen und schreiben kann, mit seinem Befund über die kranke »Gesellschaft der Gegenwart« heraus. Die »Gesellschaft« wird so zu dem meist-überdiagnostizierten Patienten. Wäre ich »die Gesellschaft«, ich wüsste nicht, woran zu leiden ich mir aussuchen würde.
Auch ich rücke in diesem Buch mit meinem Befund heraus. Allerdings bezieht er sich nicht auf »die Gesellschaft«, denn unsere Gesellschaften waren bis vor kurzem, sagen wir bis vor zehn oder fünfzehn Jahren, eigentlich ganz in Ordnung. Zumindest an der Oberfläche.
Vielmehr geht es mir um jene, die diese pluralistische, demokratische, soziale und menschliche Gesellschaft angreifen, und vielleicht sogar zerstören wollen. Ihre treibenden Motive sind Herrschsucht und Gier. Ihre Taktiken und Strategien sind Aushöhlung, Spaltung, Lüge, das Überschreiten aller ethischen Grenzen, die Zerstörung von ethischen Vorbildern, die permanente Attacke auf öffentlich-solidarische Institutionen, auf Religionen, auf Kunst und Bildung, Militarisierung und gezielte Verarmung ganzer Bevölkerungsteile.
Was wir dem politisch entgegenhalten können und müssen, darüber schreiben im Moment viele Autorinnen und Autoren. Ich möchte in diesem Buch danach fragen, was uns seelisch bestärken kann, woran wir uns in dieser Zeit der absichtsvollen Vernebelung und Infragestellung aller bisher gültigen humanen Werte halten können und sollen.
Denn irgendwann spürte ich ihn, diesen Bruch mit der Welt, in der ich aufgewachsen war. Natürlich ging dem plötzlichen Verstehen ein langer Prozess von kleinen und größeren Beobachtungen voraus. Dinge, die mich irritierten, mich vielleicht auch verunsicherten oder verängstigten. Ordnungen, die mein Leben eingerahmt und gehalten hatten, zerbröselten langsam, aber merkbar.
Die Erfindung der Alternativlosigkeit
Es begann Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre. Die – wie mir schien – Selbstverständlichkeiten, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut war, gerieten irgendwie aus dem Gleichgewicht. So zum Beispiel der Sozialstaat, von dem es plötzlich hieß, er sei nicht mehr leistbar. Die Menschen könnten nicht länger in den »sozialen Hängematten« liegen. Leistungsfähig sei nur, wer in ständiger Konkurrenz zu anderen lebe.
Weil ich das nicht glauben wollte und konnte, war ich im Jahr 2001 eine der Mitinitiatorinnen des Volksbegehrens Sozialstaat Österreich1. Wir befürchteten, dass sich der österreichische Staat in Richtung einer liberalen Armenversorgung entwickeln könnte, die Almosen verteilt, ohne dass ihre Empfänger ein verbrieftes Recht darauf hätten.
Sozialpolitik ist aber nicht nur für sozial Schwache wichtig, sondern auch für die Mittelschicht. Lebensstandard und der soziale Friede hängen von einem gefestigten und funktionierenden Sozialstaat ab. Der wiederum ist eine politische und gesellschaftliche Übereinkunft und Entscheidung.
Wir ahnten damals nicht, wie recht wir mit unseren Befürchtungen hatten. Damals lebten wir noch in der Fülle des Sozialstaates, Denker und Wissenschaftler sahen aber voraus, was kommen würde. Auch sie ahnten allerdings nicht, wie schnell.
Eine andere Attacke zielte auf die Alten. Sie, die immerhin die Welt, in der meine Generation aufwuchs, geschaffen hatten, wurden bezichtigt, den Gesellschaftsvertrag zu sprengen. Mit ihren unbotmäßigen Renten, ein über Jahrzehnte erkämpftes probates Mittel gegen Altersarmut, würden sie den Jungen die Zukunft stehlen, hieß es vermehrt.
Zu diesem fundamental unsolidarischen Angriff gab es auch einen passenden Werbespot der Wiener Städtischen Versicherung. Ein Vater sitzt mit seinem kleinen Sohn im Kaffeehaus. Der Sohn – er ist vielleicht sechs Jahre alt – bekommt ein großes Stück Torte, welches er um keinen Preis mit seinem Vater teilen möchte. Dazu eine sonore Stimme:
Wollen Sie wirklich von der Großzügigkeit Ihrer Kinder abhängig sein?
Ich erinnere mich lebhaft an die Empörung, die dieser Werbespot bei vielen und auch bei mir auslöste.
Auch die Kirchen, die, trotz aller berechtigten Kritik, gerade in ethischen Fragen eine essenzielle Ordnungsfunktion haben, werden nun zur Zielscheibe von Medien und Politik. In Punkten wie der Unbeweglichkeit der römisch-katholischen Dogmenlehre beim Priesteramt für Frauen, bei Missbrauchsfällen oder der Abtreibungsdebatte, oder bei den politischen Verwerfungen in der Geschichte Europas, wie etwa der Kollaboration der Evangelischen Kirche Österreichs mit dem Nazi-Regime, völlig zu Recht.
Aber, fragte ich mich, muss man das Kind mit dem Bade ausschütten? Stehen die religiösen Traditionen Europas nicht auch ohne jedes Fragezeichen für die Würde des Menschen ein? Erinnern sie uns mit ihrem karitativen und seelsorglichen Engagement nicht auch an die Unantastbarkeit der Menschenrechte und daran, dass jeder Mensch wertvoll ist und ein unbedingtes, nicht hinterfragbares Lebensrecht hat? Etwa wenn es um Euthanasie, Flüchtlingshilfe oder das Engagement für Behinderte, Obdachlose und alleinerziehende Frauen geht?
Die britische Premierministerin Margaret Thatcher sagte im Mai 1980 auf der Conservative Women’s Conference, der jährlichen Konferenz der Conservative Women’s Organisation:
We have to get our production and earnings in balance. There’s no easy popularity in what we are proposing, but it is fundamentally sound. Yet I believe people accept there is no real alternative. (Wir müssen unsere Ausgaben und Einnahmen ins Gleichgewicht bringen. Das, was wir vorschlagen, wird unpopulär sein, aber es ist ganz grundsätzlich vernünftig. Ich glaube, dass die Menschen akzeptieren werden, dass es keine wirkliche Alternative gibt).
Damit war