Claudio Caduff

Politisch urteilen ohne Wissen und Verstehen? (E-Book)


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aufgeführt und erläutert.

      Die herausragende Bedeutung von Wissen aus der Sicht der Autorinnen und Autoren zeigt sich auch in deren Verständnis des Wissenserwerbs. Das lernende Subjekt konstruiert sich ein Netzwerk von Konzepten, wobei diese Konzepte (bzw. Begriffe) als «kognitive Wissenseinheiten, als Vorstellungskomplexe und Wertungen über zentrale Merkmale von Dingen oder Phänomenen» (S. 21) verstanden werden können. Insofern verändern sich Konzepte ständig, und zwar sowohl im historischen Prozess als auch beim individuellen Wissenserwerb.

      2012 betteten vier der fünf Autoren ihr Kompetenzmodell des Fachwissens in ein umfassendes Politikkompetenzmodell ein (Detjen et al., 2012), das sich aus den Kompetenzdimensionen Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit sowie politische Einstellungen und Motivationen zusammensetzt.

      Die Streitschrift «Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung – Perspektiven für Wissenschaft und Praxis» der Autorengruppe Fachdidaktik (2011) kontrastiert die theoretischen Annahmen des Kompetenzmodells des Fachwissens (im Folgenden als KF abgekürzt) mit ihren eigenen theoretischen Annahmen (S. 163–168):

      Das KF verkürzt den GPJE-Entwurf (siehe S. 11) einerseits auf die kognitive Politikkompetenz und vernachlässigt damit die Handlungskompetenz. Anderseits reduziert das Modell die Kompetenzentwicklung auf das Lernen von Begriffen beziehungsweise Konzepten.

      Die ausschliesslich politische Perspektive des KF erzeugt keine civic literacy, sondern höchstens eine political science literacy, schliesst sie doch die breite sozialwissenschaftliche Perspektive aus. Dazu gehören nach Ansicht der Autorengruppe Fachdidaktik neben der Politik noch die Gegenstandsbereiche Gesellschaft, Wirtschaft und Recht mit den Inhaltsbereichen Individuum und Gesellschaft, Demokratie, Recht und Rechtsprechung, Internationale Beziehungen und Globalisierung sowie Markt und Wirtschaftsordnung. Damit wird auch das Politikverständnis der Autoren des KF kritisiert, das politische Bildung auf den Staat und die Herstellung von Ordnung reduziere, vielmehr solle sie sich an einem «umfassenden Politikbegriff orientieren, der fundamentale lebensweltliche und gesellschaftliche Zugänge explizit erschliesst» (S. 165).

      Das KF fällt in längst vergangene Zeiten der Instruktionsdidaktik zurück, da weder Interaktion zwischen den Lernenden vorkommt noch Aushandlung von Bedeutung stattfindet und Identitätsbezüge ausgeblendet werden. «In den klassischen politikdidaktischen Konzeptionen [hingegen] ist Didaktik inwendig bereits integrales Element der Bewegung der Sache selbst. Die Verfahren der Demokratie tragen eine Motivation in sich, sie haben eine ursprünglich eingeschriebene Vermittlungsleistung» (S. 166).

      Auch wenn sie Begriffe wie Konzeptorientierung, Netzwerk und Kompetenz aufnehmen, haben die Autoren des KF ein extrem verkürztes Verständnis von Konzepten als eindeutig definierbaren Begriffen, und entsprechend werden Fehlkonzeptionen als zu korrigierende Fehler bestimmt. Politische Bildung verkommt somit zur Stoffvermittlung. Im Zentrum der politischen Bildung stehen jedoch «die Bedürfnisse und Erfahrungen, die individuellen Konzepte und Deutungsmuster, die subjektiven Lernthemen und Lernauffassungen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema politischer Bildung selbst hervorbringen» (S. 168).

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       Abbildung 7: Sechs Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung und ausgewählte Teilkonzepte bzw. Teilkategorien (Autorengruppe Fachdidaktik 2011, S. 170)

      Die Autorengruppe Fachdidaktik stellt dem hermetischen Kompetenzmodell Fachwissen Basiskonzepte beziehungsweise Leitideen entgegen, die als «Orientierungshilfen für die multiplen sozialwissenschaftlichen Bezüge des Politischen» (S. 169) genutzt werden können. Die Zusammenstellung der sieben Basiskonzepte (siehe Abbildung 7) hat laut Autorengruppe Werkstattcharakter und soll als kontextübergreifende Formulierung verstanden werden, die gleichsam den interdisziplinären Blick verschiedener sozialwissenschaftlicher Zugänge ermöglicht.

      Kürzlich publizierte die Autorengruppe Fachdidaktik (2015) einen Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, in dem sie ihre Vorstellungen von guter politischer Bildung konkretisiert. Einleitend wird unmissverständlich festgehalten, dass Mündigkeit als «allgemein anerkannte Zielformel» (S. 13) der politischen Bildung gelten soll, wobei ein radikales Verständnis von Mündigkeit Abstand nehmen müsse von normativen Wahrheitsansprüchen auch bezüglich Demokratie und Marktwirtschaft (S. 15). Demzufolge sei der Politikunterricht kein Paukfach, sondern ein Denkfach, bei dem es im «Kern um die Aktivierung und Transformation der Wissensbestände von Schülerinnen und Schülern» (S. 61) gehe. Im Kapitel zum Wissen im Politikunterricht (S. 91–105) wird dann gleichzeitig vor der Wissensfalle und der Meinungsfalle gewarnt. Dabei wird einerseits die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung als selbstverständliches Ziel der politischen Bildung bezeichnet und anderseits die Anhäufung von Einzelinformationen, was die Autorengruppe offenbar als klassischen Wissensaufbau versteht, abgelehnt. Gewarnt wird jedoch auch davor, alle Lernendenäusserungen in der Klasse als gleichermassen gültig zu akzeptieren, führe dies doch zu einem Relativismus, «der junge Menschen mit ihren Orientierungsbedürfnissen allein lässt» (S. 93).

      In der deutschen Politikdidaktik bestehen neben den bisher beschriebenen Ansätzen noch zwei weitere eigenständige Richtungen der politischen Bildung: Demokratielernen und historisch-politische Bildung. Gerhard Himmelmann (2005) legte vor knapp 15 Jahren ein politikdidaktisches Konzept vor, in dem das Demokratielernen im Zentrum steht. In Anlehnung an den Pragmatismus von John Dewey entwirft er ein politikdidaktisches Stufenmodell aus Lebensform, Gesellschaftsform, Herrschaftsform: Im Laufe ihrer Entwicklung erfahren Schülerinnen und Schüler Demokratie zunächst in ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung, dann als Gesellschaftsform in sozialen Teilsystemen (besonders in der Schule und in Vereinen) und schliesslich als Herrschaftsform im Staat und in der Politik. Demokratielernen heisst nun nach Himmelmann, dass in der Schule nicht nur Politik unterrichtet wird, sondern dass je nach Alter und Schulstufe der Schülerinnen und Schüler «alle drei Ebenen im schulischen Bereich vorkommen und eine ganzheitliche Betrachtung von Demokratie zulassen. Der Zusammenhang dieser drei Ebenen sollte stets im Auge behalten werden» (Reinhardt 2014), damit die Lernenden Demokratie erfahren, erleben, begreifen und beurteilen können.

      Armin Scherb (2014) führt in seiner «Pragmatistischen Politikdidaktik» drei Bausteine auf (S. 123–209):

      •Sinnorientierung: Die Suche nach Sinn als menschliche Praxis (damit Leben gelingt) rechtfertigt das normative Prinzip der Sinnorientierung im Unterricht und mithin in der politischen Bildung.

      •Politische Urteilsbildung als Problemlösungsprozess: Weil das Politische immer etwas Offenes, Umstrittenes ist, ist sowohl in Sachfragen als auch in Wertfragen jeder «Versuch, vorab feststehende Bewertungen und Urteile auf dem Weg einer Vermittlung zu übertragen» (S. 159), unzulässig.

      •Offenheit der Schule: Die Schule muss ein Ort erfolgreicher Problemlösungsprozesse sein, und damit ist sie der wichtigste Ort für die Entwicklung der demokratischen Einstellungen bei den Schülerinnen und Schülern. Dafür muss sich die Schule inhaltlich, methodisch und institutionell öffnen.

      Thomas Hellmuth (2014) begründet in seinem Werk Historisch-politische Sinnbildung die Verbindung von historischer mit politischer Bildung mit dem Hinweis, dass Geschichte als Konstruktion zu verstehen ist, da sie eine Deutung der nicht unmittelbar zugänglichen Vergangenheit ist. Diese Deutung ist jedoch stark von der Gegenwart ihrer Entstehung beeinflusst. Um diesem Verständnis von Geschichte Rechnung zu tragen, muss der Geschichtsunterricht jedoch gesellschaftskritisch und gegenwartsbezogen sein. Und damit ergibt sich die Nähe zur politischen Bildung, die ihrerseits von Problemen der Gegenwart ausgeht und gesellschaftliche Konflikte erfasst (S. 9).

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