Offenheit verloren zu gehen droht, zu kritisieren. Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, über die Frage nachzudenken, inwiefern Menschen immer vor der Frage stehen, wer sie sind; und es ist wichtig, dieses Nachdenken so anzulegen, dass es nicht nur für philosophische Fachleute nachvollziehbar ist.
Philosophinnen und Philosophen reden oft in einer Weise, dass diejenigen, die nicht tagein und tagaus mit Philosophie befasst sind, wenig damit anfangen können. Das ist zwar insgesamt sicher unvermeidlich. Aber es ist auch wichtig, dass philosophische Überlegungen für ein breites Publikum verständlich werden, denn Philosophie ist letztlich keine Fachwissenschaft, sondern eine Reflexionspraxis, die einen Beitrag dazu leistet, dass Menschen zu denen werden, die sie sind. Sie muss auch Leserinnen und Lesern, die sich nicht im engeren Sinn akademisch mit Philosophie auseinandersetzen, etwas zu sagen haben. Aus diesem Grund habe ich mich in dem vorliegenden Essay darum bemüht, eine Schreibweise zu finden, die auf akademische Disziplinierung so weit wie möglich verzichtet. Was ich schreibe, soll für möglichst viele möglichst leicht verständlich sein. Dieses Ziel ist umso wichtiger, als das, worüber ich schreibe, uns alle betrifft. Es geht in meinen Überlegungen schließlich darum, wie wir uns verstehen.
Dieses Buch erscheint in der Reihe »Was bedeutet das alles?«. Auch diese Frage ist nicht nur in der Philosophie beheimatet. Sie wird von Religionen genauso gestellt wie von der Kunst und von den theoretischen Wissenschaften. Zudem ist sie als eine Variation auf die Frage, wer wir sind, zu begreifen. Dass wir uns überhaupt fragen, welche Bedeutung etwas hat, ist Ausdruck der Tatsache, dass für uns nichts einfach selbstverständlich ist, dass wir grundsätzlich vor der Frage stehen, wer wir sind. Insofern geht es mir in den folgenden Überlegungen auch darum zu klären, warum wir uns überhaupt die Frage stellen, was das alles bedeutet.3
Zur Einstimmung
Stellen wir uns Christiane vor. Sie war mit zwei Freundinnen im Kino und wundert sich nach dem Film, was das denn gewesen ist. Sie beschwert sich lauthals, die Story sei an den Haaren herbeigezogen und alle Figuren des Films seien ganz unnatürlich gezeichnet. Die Freundinnen teilen diese Sichtweise nicht. Eine wendet ein, zwar gebe es zweifelsohne einige Übertreibungen, aber nun sehe man, was wirklich in Beziehungen los sei. Ehe sie sich versehen, beginnen die Freundinnen sich darüber zu streiten, was unter einer guten Beziehung zu verstehen ist. Filme lösen solche Streitigkeiten immer wieder aus.
Christiane geht auch einmal die Woche zur Therapie. Dort bespricht sie vor allem das Verhältnis zu ihren Eltern, mit denen sie in ihrer Jugend immer wieder große Konflikte hatte. Aktuelle Beziehungsprobleme sucht Christiane aus der Therapie herauszuhalten. Dafür hat sie ihre besten Freundinnen, von denen sie sich in dieser Hinsicht besser verstanden fühlt. Christianes Leben besteht also nicht nur daraus, den Alltag zu bestehen, die Freizeit zu gestalten, ab und zu Essen zu gehen und in den Urlaub zu fahren. Christiane fühlt sich nicht wohl, wenn sie über Wochen hinweg nicht mehr ernsthaft mit einer Freundin hat sprechen können. Sie braucht den wöchentlichen Gang zur Therapie als Ausgleich, und sie geht ins Kino, so oft sie kann.
Die Diskussionen nach dem Kino, die Therapie und die ernsthaften Gespräche mit den besten Freundinnen – genau um solche Praktiken soll es in diesem Buch gehen. Sie sind uns weithin vertraut. Aber das heißt nicht, dass uns auch vertraut ist, was diese Praktiken insgesamt bedeuten. Es handelt sich um Praktiken, mittels deren wir uns fragen, wer wir sind. Diese Frage klingt erst einmal ziemlich abstrakt. Und tatsächlich: So wird diese Frage ja auch meist nicht gestellt. Sie tritt eher in der Form auf, dass Christiane sich fragt, was sie unter einer gelungenen Beziehung versteht oder unter einem angemessenen Verhältnis zu ihren Eltern und zu ihrem Sohn. In solchermaßen konkreten Weisen stellt sich für sie die Frage, wer sie ist. Oder anders gesagt: Sie stellt die Frage in vielen Varianten, in vielen spezifischen Zusammenhängen.
Das ändert aber nichts daran, dass es überall dort, wo Filme auf das, was sie uns sagen, hin befragt oder zwischenmenschliche Beziehungen in ihren Problemen beleuchtet werden, um unser Verständnis des Menschseins geht – auch dort, wo wir Tagebuch schreiben, wo wir miteinander auf einem Rave tanzen, wo wir miteinander feiern und wo wir die Unterschiede politischer Systeme diskutieren. Zu unserem normalen Leben gehört in diesem Sinn die Frage nach uns selbst: Was ist der Mensch? Oder in konkreter Gestalt: Was ist eine gelungene Beziehung? Was ist ein angemessenes Verhältnis zu den eigenen Eltern? Was ist eine gerechte politische Ordnung?
Gerade wenn man davon ausgeht, dass die Frage, wer wir sind, uns ständig begleitet, stellt sich eine weitere schlichte Frage, nämlich die, warum dies so ist. Warum fragen wir uns, wer wir sind? Welche Bedeutung hat diese Frage für uns? Erst einmal mag es so aussehen, als seien Menschen einfach Menschen. Warum sollten sie sich also fragen, wer sie sind? Menschen leben, so könnte man geneigt sein zu denken, auf eine menschliche Weise. Sie führen Beziehungen, erziehen Kinder, stehen in Beziehungen zu ihren Eltern und leben in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Praktiken, die hier jeweils im Spiel sind, legen, so scheint es, fest, was Menschen sind.
Wenn man entsprechend ansetzt, liegt es nahe, folgendermaßen zu denken: Wir fragen uns, wer wir sind, weil wir wissen wollen, wer wir sind. Wenn wir so fragen, dann schauen wir uns also einfach an, wie wir leben und vieles andere mehr. Eine solche Verhaltensweise wäre einfach zu erklären. Wir sind ja Lebewesen mit kognitiven Fähigkeiten – Fähigkeiten, die wir selbstverständlich auch auf uns selbst anwenden können. Es ist uns möglich zu erkennen, was einzelne Lebewesen genetisch voneinander unterscheidet. So ist es uns doch sicher auch möglich zu erkennen, wer wir selbst sind – zumindest in Maßen. Es sieht also erst einmal so aus, als ob es wenig zu erklären gibt. Wir sind Wesen, die zu Erkenntnissen gelangen können. Wir können die Welt um uns herum und natürlich auch genauso uns selbst erkennen. Man könnte also denken, dass die Frage, die der Untertitel formuliert, einfach zu beantworten ist:
(Naheliegende Antwort)
Wir fragen uns, wer wir sind, weil wir wissen wollen, wer wir sind.
Auch wenn diese Antwort erst einmal plausibel zu sein scheint, lässt sich ihre Plausibilität doch schnell untergraben. Dazu genügt ein Blick auf die Praktiken, die ich bislang erwähnt habe. Wer mit anderen nach dem Film diskutiert, wer in eine Therapie geht und wer sich mit anderen über Fragen der Kindererziehung auseinandersetzt, will nicht einfach etwas über sich feststellen. Gefragt wird hier vielmehr in unterschiedlicher Weise, wie zu sein richtig ist. Wie kann eine Beziehung gelingen? Welches Verhältnis zu den eigenen Eltern ist angemessen? Wie sollte man als Eltern mit Kindern umgehen, um ihnen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen? Wie muss ein Gemeinwesen organisiert sein, damit es innerhalb seiner gerecht zugeht? Hinter diesen Fragen steht allgemein die Frage, wie Menschen sein sollen. Es geht dort, wo sie gefragt werden, darum zu klären, wie ein menschliches Leben richtig zu gestalten ist.
Warum aber machen wir das? Auch hier kann man eine naheliegende Antwort zu geben suchen und sagen:
(Frage nach dem richtigen Leben)
Wir fragen uns, wie Menschen ihr Leben richtig zu gestalten haben, um ein richtiges Leben zu leben.
Das ist so korrekt, wie es zugleich wenig klärt. Wer fragt, was richtig ist, will klären, was richtig ist. Das stimmt, sagt aber letztlich nichts darüber aus, worum es in einer solchen Klärung geht, welche Bedeutung sie hat. Man kann antworten wollen: Weil es uns um das Richtige geht. Aber das wirft wiederum nur die Frage auf, warum dies so ist. Es ist zweifelsohne so, dass Menschen am Richtigen im Sinne des Wahren, Guten und Schönen orientiert sind. Doch das erklärt noch nichts. Entscheidend ist die Beantwortung der Frage, warum das so ist. Man könnte versucht sein, es mit Immanuel Kant (1724–1804) zu halten, und einfach vom »Faktum der Vernunft«4 sprechen. Doch auch ein solcher Verweis trägt wenig zur Klärung bei. Warum sind wir an Vernunft orientiert? Warum wollen wir das Wahre erkennen, das Gute realisieren und uns mit dem Schönen umgeben?
An diesem Punkt der Überlegungen können wir diese Fragen noch nicht beantworten. Aber wir können jetzt schon ein typisches Fehlverständnis der Frage nach dem Menschen feststellen. Ganz im Sinne der angesprochenen naheliegenden Antwort wird die Frage, wer wir sind, oft so verstanden, als gehe es darum, uns von Tieren zu unterscheiden. Entsprechend legt man die klassische Bestimmung des Menschen als eines vernünftigen Tiers (auf die ich in meinen Überlegungen noch mehrfach