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Philosophien der Praxis
Ein Handbuch
Thomas Bedorf / Selin Gerlek
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
|1|Einleitung
Philosophie ist Geschäft der Theorie: Erfindung, Begründung und Kritik von Theorie. Zwar ließe sich das von den meisten Wissenschaften sagen, aber im Falle der Philosophie kommt hinzu, dass ihr überhaupt ein genuiner materialer Gegenstand über die Theoriebildung hinaus fehlt. Sie hat etwas zu sagen, dies aber nicht über etwas Bestimmtes. Sie bezieht sich nicht auf einen Bereich oder einen Aspekt der Welt, für den sie im Unterschied zu anderen Wissenschaften im Besonderen zuständig wäre; wie die Soziologie für die „Gesellschaft“, die Biologie für das „Leben“, die Psychologie für das „Seelische“ usw. Und weil der Philosophie der Gegenstand fehlt, ist sie oder zumindest wirkt sie wie die theoretischste aller Wissenschaften: Sie beschäftigt sich häufig mit dem, was andere Wissenschaften eigentlich tun (und was diese nicht zugleich reflektieren können, während sie das tun, was sie tun) oder mit dem, was diesen Wissenschaften vorausliegt (weil sie in ihrer wissenschaftlichen Praxis die eigenen Voraussetzungen nicht bedenken). Vielfach ist Philosophie daher Klärungsarbeit: Reflexion darauf, was mit einem Sprachgebrauch gemeint ist. Sie versucht sich an der Klärung dessen, was überhaupt ein bestimmter Begriff bedeutet und wie er sich von anderen unterscheidet. Man darf daher sagen, dass Philosophie überhaupt und in der Hauptsache Arbeit am Begriff ist.
Was kann aber für diese theoretischste aller Wissenschaften „Praxis“ bedeuten, gar eine „Philosophie der Praxis“? Es scheint in diesem Ausdruck ja eine Behauptung zu stecken, nämlich dass Philosophie zur Praxis etwas zu sagen hätte. Das ist wohl zu hoffen, aber der Schluss, alle Philosophie wäre eo ipso „Philosophie der Praxis“, ist dann doch etwas vorschnell. Wenn aber nicht jede Philosophie eine der Praxis ist oder sein will, so meint also „Philosophie der Praxis“ eine besondere Sorte Philosophie, die sich von anderen Weisen, diese Wissenschaft zu betreiben, unterscheiden will. Was das aber heißt, ist nicht ohne Weiteres klar, sodass am Ende selbst noch von „Philosophien der Praxis“ gesprochen wird, da die Arbeit am Begriff der Praxis selbst polyphon ist.
Prinzipiell scheinen nun drei Weisen möglich, den Ausdruck „Philosophie der Praxis“ zu verstehen.
1. Disziplinärer Anspruch: Eine spätestens seit Kant geläufige und bis in die organisatorische Ordnung der akademischen Philosophie reichende innerfachliche Differenz unterscheidet die Theoretische von der Praktischen Philosophie. Die Theoretische Philosophie versammelt Antworten auf die Frage, was und warum etwas ist: Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Was ist Erkenntnis? Was hält die Welt zusammen? Was heißt Denken? Wie funktioniert das Bewusstsein? Gibt |2|es Gesetze des Denkens? Unter die Theoretische Philosophie fallen demnach die philosophischen Teildisziplinen der Erkenntnistheorie, der Metaphysik, der Logik, der Ontologie und der Theorie des Bewusstseins (bzw. der theory of mind). Die Praktische Philosophie behandelt demgegenüber Antworten auf die Frage, was wir tun können und sollen: Was unterscheidet eine Handlung vom Verhalten? Was bedeutet Geschichte? Wie ist eine gerechte soziale und politische Ordnung möglich? Wie verhalten sich Recht und Moral zueinander? Entsprechend werden unter die Praktische Philosophie die Teildisziplinen der Handlungstheorie, der Moralphilosophie, der Rechtsphilosophie, der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie und der Geschichtsphilosophie subsumiert. Die Praktische Philosophie in diesem disziplinären Sinne ist jedoch von einer „Philosophie der Praxis“ streng zu unterscheiden. Denn der Anspruch einer „Philosophie der Praxis“ besteht gerade darin, mehr als eine Teildisziplin der Philosophie zu sein. Sie ist keine Unterabteilung, sondern vielmehr eine bestimmte Weise, die Philosophie selbst zu verstehen; nämlich von der Praxis her. Was das bedeutet, ist ganz unterschiedlich gesehen worden – woraus sich schließlich der titelgebende Plural „Philosophien der Praxis“ erklärt. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Positionen die Überzeugung, dass die Trennung in Theorie und Praxis – und somit die innerfachliche in Theoretische und Praktische Philosophie – selbst problematisiert werden muss. Eine „Philosophie der Praxis“ ist eine Philosophie, die die Theorie-Praxis-Unterscheidung in verschiedene Zuständigkeiten nicht fraglos hinnimmt. Sie schlägt somit eine alternative Perspektive vor, in der die Fragen und Probleme der Philosophie sich anders stellen lassen.
2. Methodischer Anspruch: Unter methodischen Gesichtspunkten meint Praxis etwas, das als Praxis (oder häufig auch: als Praktik) beschrieben und in ihrem Vollzug und ihrer Funktion analysiert werden kann. Klassische neuzeitliche Erklärungen sozialer Interaktionen bedienen sich häufig (bisweilen implizit) dichotomischer Begriffspaare. Sie gehen von einer Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Handlung und Struktur, Anwendung und Regel oder Individuum und Gesellschaft aus, um aus deren Spannung bspw. das Gelingen oder Misslingen von Handlungen oder die Transformation sozialer Ordnungen zu erklären. „Philosophien der Praxis“ sind demgegenüber der Auffassung, dass diese dichotomischen Unterscheidungen, die nicht selten in einen harten Dualismus münden, Voraussetzungen machen, die die Theorie selbst nicht weiter begründet. Sie bezweifeln nicht, dass es Individuen „gibt“, aber sie zweifeln daran, dass man „Individuen“ genauso wie „Gesellschaft“ als eine wissenschaftliche Entität betrachten kann, von der man ohne weitere Erläuterung einfach ausgehen könne, um etwas Anderes zu erklären. „Individuum“ und „Gesellschaft“ sind selbst Konstituiertes und daher genauso gut oder genauso wenig Ausgangspunkt für Theoriebildung wie andere Begriffe. Bisweilen unterstellt eine Philosophie der Praxis daher den klassisch neuzeitlichen dichotomischen Theorien eine Substantialisierung von Kategorien, die doch selbst sozial oder kulturell erzeugt worden und somit eben |3|nichts ahistorisch Essentielles sind. Statt mit Begriffen zu beginnen, die Voraussetzungen machen, die wir nicht einholen können oder die sich dichotomisch gegenüberstehen, plädieren Theorien der Praxis dafür, mit einem mittleren Begriff zu beginnen, der gewissermaßen zwischen den beiden Polen steht: eben dem Begriff der Praxis. Zwar gibt es nun eine ganze Reihe antidualistischer Ansätze. Die Pointe des Praxisbegriffs liegt hingegen darin, dass er die Erzeugung sozialen und kulturellen Sinns weder monistisch noch in der Setzung von Abbildverhältnissen oder Parallelisierungen sehen will, sondern in performativen Vollzügen materiell-habitueller Ensembles.
Eine Praxis wird dann verstanden als Vollzug von Körperbewegungen, die sich in einem Setting sozialen Sinns abspielen, durch Wiederholung eingeübt und als sinnhafte wiedererkennbar werden, aber sich dadurch zugleich von anderen unterscheiden. Eine solche Beschreibung von sozialen oder kulturellen Praxen muss (und: darf!) dann Begriffe wie Handlung, Absichten, Gesellschaft oder Diskurs nicht verwenden, um soziale Vollzüge erschöpfend zu beschreiben. Theorien der Praxis versuchen auf diese Weise schlanke und nüchterne Theorien zu sein – doch sie sind dies, gerade weil sie qua kritischer Distanznahme zu ansonsten unfraglich angenommenen Konzepten diese zunächst als das nehmen, was sie sind: geronnene Konzepte, deren Zeit und Bestimmung auf der kontingenten Praxis der Theorienbildung beruht.
Klar ist daher auch, dass sie sich in deutlicher Abgrenzung von anderen Theorien positionieren, die im 20. Jahrhundert zum Standard gehören: Handlungstheorie, Strukturalismus, Systemtheorie, Hermeneutik, Philosophien des Geistes usw., also KandidatInnen für jene Philosophien, die in der dichotomischen Gegenüberstellung eine Seite präferieren und die jeweils andere als davon abhängig betrachten. Beiträge zu dieser Ausrichtung von Praxisphilosophien finden sich schon in den Begrifflichkeiten der antiken griechischen Philosophie, bei Hannah Arendt, in der Phänomenologie Merleau-Pontys, der Praxissoziologie Bourdieus oder den poststrukturalistischen Körpertechniken Foucaults.
Bei allen Unterschieden ist den hier behandelten Philosophien gemeinsam, Praxis als eine Form kollektiven Vollzugs zu verstehen, der sich nicht aus einzelnen zweckgerichteten Handlungen zusammensetzt: Praxis ist prinzipiell offen. In der gegenwärtigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion (s.u.) ist dies wiederholt als Praxis, aber auch (um ihre Pluralität betonen zu können und sie einzeln analysierbar zu machen) als Praktiken bezeichnet worden.
3. Holistischer Anspruch: