Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt


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       Ein großer Roman aus dem amerikanischen Süden, ein zärtliches Familienporträt in einer von Armut und Rassismus geprägten Gesellschaft.

      Jojo und seine kleine Schwester Kayla leben bei ihren Großeltern Mam and Pop an der Golfküste von Mississippi. Leonie, ihre Mutter, kümmert sich kaum um sie. Sie nimmt Drogen und arbeitet in einer Bar. Wenn sie high ist, wird Leonie von Visionen ihres toten Bruders heimgesucht, die sie quälen, aber auch trösten. Mam ist unheilbar an Krebs erkrankt, und der stille und verlässliche Pop versucht, den Haushalt aufrecht zu erhalten und Jojo beizubringen, wie man erwachsen wird. Als der weiße Vater von Leonies Kindern aus dem Gefängnis entlassen wird, packt sie ihre Kinder und eine Freundin ins Auto und fährt zur "Parchment Farm", dem staatlichen Zuchthaus, um ihn abzuholen. Eine Reise voller Gefahr und Hoffnung.

      Jesmyn Ward erzählt so berührend wie unsentimental von einer schwarzen Familie in einer von Armut und tief verwurzeltem Rassismus geprägten Gesellschaft. Was bedeuten familiäre Bindungen, wo sind ihre Grenzen? Wie bewahrt man Würde, Liebe und Achtung, wenn man sie nicht erfährt? „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ ist ein großer Roman, getragen von Wards so besonderer melodischer Sprache, ein zärtliches Familienporträt, eine Geschichte von Hoffnungen und Kämpfen, voller Anspielungen auf das Alte Testament und die Odyssee.

      Über die Autorin

      Jesmyn Ward, geb. 1977, wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi. Sie lehrt derzeit Englische Literatur an der Tulane University in New Orleans. Bereits ihr erster Roman »Vor dem Sturm« wurde mit dem National Book Award ausgezeichnet, für »Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt« erhielt sie ihn 2017 ein zweites Mal.

      Jesmyn Ward

       Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

      Roman

      Aus dem Englischen

      von Ulrike Becker

      Verlag Antje Kunstmann

      Für meine Mutter, Norine Elizabeth Dedeaux, die mich liebte, noch bevor ich den ersten Atemzug tat. Das lässt sie mich in jeder Sekunde meines Lebens spüren.

       Wen suchen wir, wen suchen wir? Equiano suchen wir. Ist er an den Fluss gegangen? Dann soll er wiederkommen. Ist er auf die Felder gegangen? Dann soll er zurückkehren. Equiano suchen wir.

      Gesang der Kwa

       [Das Gedächtnis] ist etwas Lebendiges – und als solches vergänglich. Doch wenn der Moment kommt, strömt alles Erinnerte zusammen und erwacht zum Leben – Alt und Jung, Vergangenheit und Gegenwart, Lebende und Tote.

      Eudora Welty

       The Gulf shines, dull as lead. The coast of Texas glints like a metal rim. I have no home as long as summer bubbling to its head boils for that day when in the Lord God’s name the coals of fire are heaped upon the head of all whose gospel is the whip and flame, age after age, the uninstructing dead.

      Derek Walcott

       1. Kapitel

      JOJO

      ICH STELL MIR GERNE VOR, dass ich weiß, was der Tod ist. Ich stell mir gerne vor, dass er etwas ist, dem ich ins Auge sehen kann. Als Pop zu mir sagt, ich soll ihm helfen, und ich das schwarze Messer seh, das hinter seinem Gürtel steckt, folge ich ihm nach draußen und versuche, den Rücken durchzustrecken und die Schultern so gerade wie einen Kleiderbügel zu halten; so geht Pop. Ich tu so, als wär die Sache ganz normal und langweilig, damit Pop denkt, dass ich mir diese dreizehn Jahre verdient hab, damit er weiß, dass ich bereit bin zu tun, was getan werden muss, Eingeweide von Muskeln zu trennen, Organe aus ihren Höhlen zu schälen. Ich will Pop zeigen, dass ich mit Blut klarkomme. Heute ist mein Geburtstag.

      Ich halte die Tür fest, damit sie nich zuknallt, dann lasse ich sie ganz leise einklicken. Mam und Kayla sollen nich aufwachen, wenn keiner von uns im Haus is. Besser, sie schlafen. Besser, meine kleine Schwester Kayla schläft weiter, denn in den Nächten, wenn Leonie arbeiten is, wird sie jede Stunde wach, setzt sich im Bett auf und schreit. Besser, Großmutter Mam schläft weiter, denn die Chemo hat sie ausgetrocknet und ausgezehrt, so wie die Sonne und die Luft es bei den Wassereichen machen. Pop schlängelt sich zwischen den Bäumen durch, aufrecht und schlank und braun wie eine junge Kiefer. Er spuckt auf die trockene rote Erde, und die Baumkronen winken im Wind. Es ist kalt. Dieser Frühling ist stur, an den meisten Tagen lässt er keine Wärme durch. Die Kälte bleibt einfach da, so wie Wasser in einer verstopften Badewanne. Ich hab mein Hoodie auf dem Fußboden in Leonies Zimmer liegen lassen, wo ich schlafe, und mein T-Shirt ist dünn, aber ich reibe mir trotzdem nich die Arme. Wenn ich mich von der Kälte ärgern lasse und dann die Ziege sehe, werd ich ganz bestimmt zusammenzucken oder die Stirn runzeln, wenn Pop ihr die Kehle durchschneidet. Und wie ich Pop kenne, wird er es merken.

      »Wir lassen die Kleine lieber schlafen«, sagt Pop.

      Pop hat unser Haus selbst gebaut, vorne schmal und lang, dicht an der Straße, damit er den Wald auf dem Rest des Grundstücks stehen lassen konnte. Die Ställe für seine Schweine, Ziegen und Hühner hat er auf kleine Lichtungen zwischen die Bäume gesetzt. Zu den Ziegen müssen wir am Schweinestall vorbei. Die Erde dort ist schwarz und matschig vom Kot, und seit Pop mich, als ich sechs war, mal verprügelt hat, weil ich ohne Schuhe im Schweinegehege rumgelaufen bin, war ich nie wieder barfuß hier draußen. Du kannst dir dabei Würmer holen, hatte Pop gesagt. Später an dem Abend hat er mir Geschichten von sich und seinen Geschwistern erzählt, als sie noch klein waren und immer barfuß gespielt haben, weil jeder nur ein Paar Schuhe besaß, und das war zum in die Kirche gehen. Sie haben alle Würmer gekriegt, und wenn sie aufs Plumpsklo gingen, haben sie sich die Würmer aus dem Po rausgezogen. Ich hab es Pop nicht gesagt, aber das hat besser gewirkt als die Schläge.

      Pop wählt die unglückliche Ziege aus, legt ihr den Strick wie eine Schlinge um den Hals und führt sie aus dem Stall. Die anderen blöken und stubsen ihn an, rammen ihm ihre Köpfe in die Kniekehlen und lecken an seiner Hose.

      »Heh, weg da!«, sagt Pop und tritt nach ihnen. Ich glaub, die Ziegen verstehn sich; ich seh das an den bockigen Kopfstößen, daran, wie sie sich in Pops Hose verbeißen und am Stoff zerren. Ich glaub, sie wissen, was die lose Schlinge um den Hals der einen bedeutet. Der weiße Bock mit dem dunkelgefleckten Fell tänzelt hin und her, er wehrt sich, als ob er schon ahnt, wo es für ihn hingeht. Pop zieht ihn an den Schweinen vorbei, die zum Zaun gerannt kommen und Pop angrunzen, weil sie Futter wollen, und dann den Weg runter zum Schuppen, der dichter am Haus steht. Zweige klatschen an meine Schultern, kratzen mich und hinterlassen dünne weiße Schrammen auf meinen Armen.

      »Wieso hast du hier nicht mehr gerodet, Pop?«

      »Zu wenig Platz«, sagt Pop. »Und keiner brauch zu sehn, was ich da hinten hab.«

      »Man kann die Tiere doch vorn hören. Von der Straße aus.«

      »Und wenn einer versucht, sich herzuschleichen und sich an meine Tiere ranzumachen, dann hör ich ihn durch diese Bäume kommen.«

      »Du meinst, die Tiere würden sich klauen lassen?«

      »Nein. Ziegen sind garstig, und Schweine sind schlauer, als man denkt. Und gemein. So’n Schwein beißt jeden, von dem es nich gewohnt is, Futter zu kriegen.«

      Pop und ich gehen in den Schuppen. Pop bindet den Ziegenbock an einen Pfahl, den er in den Boden gerammt hat, und der Bock blökt ihn an.

      »Kennst du irgendwen, der seine Tiere draußen hat?«, sagt Pop. Und Pop hat recht. Keiner in Bois lässt seine Tiere frei rumlaufen, weder auf den Feldern noch vorne vor dem Haus.

      Der Bock wirft den Kopf hin und her, stemmt sich nach hinten.