Joli Schubiger-Cedraschi

Haus der Nonna


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      Über dieses Buch

      Im Jahr 1939 bringt der Vater die vierjährige Joli Cedraschi aus Zürich ins Tessiner Dorf zu den Grosseltern. Berufliche Aussichten haben ihn wie andere Väter in die grosse Stadt ziehen lassen, zurück blieben die Kinder, die Frauen und die Alten. In «Haus der Nonna» erzählt sie von den drei Jahren im Mendrisiotto.

      Im Mittelpunkt der Erinnerungen an die Kindheitsjahre 1939 bis 1941 im Tessiner Dorf steht Nonna Vittoria, die Grossmutter, um die alles kreist, die befiehlt und sagt, wo’s langgeht, die weiss, was richtig und was falsch ist, was guttut und was schaden kann. Neben ihr Nonno Pepp, der Grossvater mit den Beziehungen zur Welt ausserhalb des Dorfes, der in der deutschen und französischen Schweiz gewesen ist, der im Weinberg die Reben spritzt, mit den Männern im Wirtshaus sitzt und der kleinen Enkelin – unter Protest der Nonna – derbe Geschichten von allerlei Spitzbuben erzählt.

      Joli Schubiger-Cedraschi, geboren 1935 in Zürich. Mit vier Jahren kam sie zu ihrer Grossmutter ins Tessin, wo sie drei Jahre verbrachte. Als anerkannte Restauratorin arbeitet sie heute noch für Private und Museen. Joli Schubiger-Cedraschi lebt in Uster.

      Joli Schubiger-Cedraschi

      Haus der Nonna

      Aus einer Kindheit im Tessin

      Limmat Verlag

      Zürich

      Dieser Bericht über meine Kindheitsjahre in einem Tessiner Dorf (1939 bis 1941) ist in langen Gesprä­chen entstanden. Ich habe erzählt; Jürg Schubiger hat gefragt und aufgeschrieben. Es ging uns dabei um das ein­fache Präsentieren von Bildern und Lebensformen, ohne Er­findung und ohne willkürliche Veränderung. Sogar die Namen haben wir beibehalten. Dass der Bericht dennoch nicht das beschreibt, was «wirklich war», sondern eher das, was aus meiner Vergangenheit für mich wirklich und wichtig ist, scheint mir selbstverständlich.

      Wo meine Erinnerungen oder meine Kenntnisse nicht ausreichten, habe ich bei meinem Vater und bei On­keln und Tanten nachgefragt. Die ergänzenden Hin­weise, die ich erhielt, waren oft widersprüchlich, und Bericht, Gerücht und Dorfgeschichte liessen sich meist nicht mehr unterscheiden.

      Joli Schubiger-Cedraschi

      Reise in unser Dorf

      Ich war etwa vier Jahre alt, als ich zum ersten Mal und für längere Zeit zu meiner Grossmutter ins Tessin fuhr. Ich ging zur Nonna. Was sie lebte und vertrat, wirkte so unmittelbar und stark auf mich, dass es mir nie eingefallen wäre zu sagen, «ich gehe zum Nonno» oder «zu den Verwandten im Tessin».

      Die Nonna war die Mutter meines Vaters, und sie wurde für ein paar wichtige Jahre auch zu meiner ei­genen. Meine andere Mutter hatte eben ihr drittes Mädchen geboren. Einige Jahre zuvor war sie aus Niederösterreich in die Schweiz gekommen, als Schneiderin, und hatte in Zürich meinen Vater kennengelernt. Sie verstand kein Italienisch, er fast kein Schriftdeutsch. Nun litt sie dauernd an Kopfweh. Sie war ängstlich besorgt und hilflos und nie recht glücklich. Um sie vorübergehend zu entlasten, wurde ich ins Tessin gebracht.

      Im Frühjahr 1939, am Ostersamstagmorgen, fuhren wir in Zürich weg, Papà und ich. Sicher trug er damals schon seine dunkelroten, stark glänzenden Schuhe und den sandfarbenen Anzug. Ich habe ihn auch bei späteren Bahnfahrten und an Sonntagen in Zürich nie anders gesehen. Bevor er sich auf die hölzerne Bank setzte, wischte er den Sitzplatz ab, obwohl das nicht nötig war. Dann fragte er mich: «Hast du die Fahrkarte noch?» Ja, ich hielt sie in der Hand, ich spürte ihre Kanten. Oder ich hatte sie neben das frische Taschentuch ins rote Wachstuchtäschchen gesteckt und presste jetzt die Hand über den Bügelverschluss. Papà öffnete seine Zeitung, den Giornale del Popolo, und begann zu lesen. Was ich auf dieser frühen Bahnfahrt erlebte, weiss ich im Einzelnen nicht mehr. Jüngere Bilder haben sich vor die alten gestellt und sich auch mit ihnen vermischt. Aus den verschiedenen Fahrten ist längst eine einzige Fahrt geworden. Wenn ich später, bei Beginn der Schulferien, in diesem Zug sass, entdeckte ich kaum ein neues Landschaftsgesicht; überall war es ein Wiedererkennen.

      Wir kamen an Bahnhöfen vorbei, die ich sehr hässlich fand, Erstfeld beispielsweise oder Amsteg. Mit den Namen dieser Orte verband sich etwas Graugrünes und Feuchtes. Auch die Felsen, die nahe heran­rückten, gefielen mir nicht. Sie waren dunkel vor Nässe und glänzten. Im kurzen Gras lagen Steinbrocken, die oben zum Teil mit Büschen bewachsen waren. Durchs halboffene Fenster kam kühle Luft herein. Wenn ich den Himmel sehen wollte, musste ich den Kopf an die Scheibe pressen und durch einen schmalen Schacht hinaufschauen. Papà hatte noch immer die Zeitung vor seinem Gesicht. Solange wir diesseits des Gotthards waren, blickte er kaum je durchs Fenster.

      Die Tessiner Bahnhofvorstände sahen jünger und hübscher aus. Sie standen weniger steif und hielten auch die Kelle anders in der Hand. Ich staunte. Papà legte die Zeitung weg. Er schaute hinaus. Dann fragte er mich noch einmal nach meiner Fahrkahrte. Ich hatte sie noch. Er erzählte mir die Geschichte von einem Vater, der mit seinem Jungen eine Bahnfahrt machte. Der Vater hatte nur für sich selber eine Fahrkarte gelöst. Als der Schaffner kam, suchte der Junge angestrengt in allen Taschen. Der Vater schimpfte so grob über die Schlampigkeit und Dummheit seines Sohnes und ohrfeigte ihn so hart, dass der Schaffner schliesslich Mitleid hatte und weiterging. Das Geld, das die beiden mit ihrem Trick sparten, gaben sie dann in einer Wirtschaft aus. Diese Geschichte gehörte zu unserer Bahnfahrt. Mein Vater erzählte sie jedes Mal.

      Er schaute wieder durchs Fenster. Einmal zeigte er auf kleine, mit Reben bepflanzte Terrassen oben am Berg, ein andermal auf einen Mann, der mit einem Ei­mer zum Hühnerstall ging. Papà schüttelte den Kopf. Er lächelte über die Lebensweise dieser Leute, die mühsam war und wenig einbrachte. In seinem ­Lächeln war Mitleid und Scham. Er selber hatte sein Dorf, wie fast alle Burschen seines Alters, verlassen. Gleich nach dem Schlussexamen, noch am selben Tag, war er nach Zürich gereist. Sein Vater arbeitete dort seit vielen Jahren als Maurer. Er wohnte in einer kleinen Pension, die ein Tessiner und seine Frau für ihre Landsleute eingerichtet hatten. In seinem Zimmer war noch Platz für ein zweites Bett.

      Man lebte und arbeitete in der Fremde mit Verwandten, Freunden, Bekannten zusammen und lernte als Bursche das, was die Männer konnten. Mein Vater war Maurer, mein Grossvater war Maurer, dann auch Girumín, sein Bruder, und Guido, dessen Sohn, beinahe alle, die ausgezogen waren, auch Tugnín, ein Bruder meines Vaters, und Lüis, Emilio, Bruno. Wer, wie die Männer unserer Familie, aus dem Mendri­si­otto stammte, arbeitete eben mit Stein, Sand, Zement und Gips. Für andere Tessiner Regionen waren andere Berufe und Beschäftigungen charakteristisch.

      Der Zug hielt jetzt in Bellinzona. Mein Vater stieg aus, um am Kiosk Schinkenbrote und Getränke zu holen. Ich wusste, die Zeit war sehr knapp. Ich hörte Lautsprecher, einen ganz in der Nähe, einen anderen wie ein Echo aus einiger Ferne, und verstand kein Wort. Wenn Papà den Zug verpasste, sass ich allein da. Ich hatte Angst. Einmal sprang er mit beladenem Arm aufs Trittbrett, als der Zug sich schon wieder bewegte.

      Am Luganersee wies er auf ein Haus, ein Sanatorium, das auf einer Anhöhe lag. Hier hatte eine seiner Kusinen, die an Tuberkulose litt, ihre letzten Jahre verbracht. Das Sanatorium war für mich später ein gutes Signal. Wenn das Haus erschien, wusste ich, wir würden gleich da sein. Ich sah Leute auf den Feldern, die Strohhüte trugen und die sich aufrichteten, um uns nachzusehen. Bei Capolago, am Ende des Sees, streckte mein Vater sich nach dem Gepäck. Draussen traten die Berge zurück. Die Landschaft wurde geräumiger, hügelig und hell.

      Der Bahnhof von Mendrisio sah aus, als werde er selten benützt. Wir waren fast die Einzigen, die hier ausstiegen. Giotta, einer aus dem Dorf meines Vaters, erwartete uns mit Pferd und Wagen. Tagsüber hatte dieser Giotta damals kaum etwas zu tun. Man wusste, dass er nachts auf Feldwegen über die Grenze nach Italien fuhr, um Lebensmittel zu beschaffen, die bei uns knapp und später dann rationiert waren, aber man sprach nicht darüber. Man kaufte das Nötige bei ihm ein, ohne Fragen zu stellen.

      Giotta begrüsste Papà mit dem vertraulichen Namen Carletto. Meinen Namen sprach er mit einem sehr offenen O aus: Jaale. Der Mann war sehr kräftig ge­baut; sein ärmelloses Unterhemd liess einen Teil der schwarzbehaarten Brust frei. Er versorgte den Koffer unter dem Bock. Dann überquerten wir die