Nina Ayerle

Wandern. 100 Seiten


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      Nina Ayerle

      Wandern. 100 Seiten

      Reclam

      Für Opa Conny

      Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

       www.reclam.de/100Seiten

      2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Phillip Reclam jun. Verlag GmbH nach einem Konzept von zero-media.net

      Infografiken: annodare GmbH, Agentur für Marketing

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2022

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961959-0

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20588-4

       www.reclam.de

      Die Liebe zum Wandern

      Zugegeben, ich bin nicht als passionierte Wandrerin auf die Welt gekommen. Das ist vermutlich auch schwierig, wenn man einen Großvater hat, der mit größter Leidenschaft gefühlt jeden zweiten Berggipfel Europas erklommen hat, keine konditionellen Schwächen kannte und zudem der Überzeugung war, dass seine Enkel diese grenzenlose Bergliebe ebenfalls schon in früher Kindheit spüren sollten – auch ohne vergleichbare Ausdauer.

      Nun erschienen mir als Kind selbst kleinere Berge – für passionierte Bergsteiger eher Anhöhen – wie der Hohenstaufen oder der Rechberg in meiner Heimatregion um Göppingen schon unbezwingbar. In meinen kleinen, grünen Halbschuhen – definitiv nicht das richtige Schuhwerk zum Wandern – trödelte ich gewöhnlich hinter der familiären Wandergruppe hinterher und fing irgendwann an, alle mit Sätzen wie »Wie lange muss ich noch laufen?« oder »Ich hab’ Hunger!« zu nerven. Antworten wie »Vesper gibt’s auf dem Gipfel!« haben nicht unbedingt dazu beigetragen, meine Begeisterung für lange Fußmärsche zu wecken.

      Dabei habe ich als Landkind die Natur schon immer geliebt. Mit meinen Geschwistern habe ich stundenlang Staudämme an Bächen oder Häuser aus Moos in südfranzösischen Pinienwäldern gebaut. Aber langes Gehen war mir verhasst – obwohl ich schon mit sieben Jahren mit Leistungssport angefangen hatte und meine Freizeit aus Tischtennis, Volleyball und Leichtathletik bestand. Sport und Bewegung habe ich als Kind geliebt – aber am liebsten eben mit Bällen und wenn es ums Gewinnen ging. Beim Wandern gibt es nichts zu gewinnen! Das dachte ich zumindest als Kind. ›Wanderlust‹, eines der Wörter, die die englische Sprache aus dem Deutschen entlehnt hat, war mir fremd. Umherzugehen ohne richtiges Ziel erschien mir sinnlos – und damit langweilig.

      Das ist lange so geblieben. Bei einem Zwischenstopp in Innsbruck während meines Studiums kamen mir die hohen Berge der österreichischen Alpen bedrückend vor. Ich vermisste die Weite des Meeres und war froh, als ich irgendwann an der italienischen Adriaküste angekommen war. Die Liebe zum Wandern und den Bergen entdeckte ich erst, ganz klischeehaft, als ich mich nach den ersten Berufsjahren als Journalistin und stets gestresste Großstädterin nach Ruhe und Abgeschiedenheit sehnte – die ich auf einer Bergtour in den Dolomiten während eines Urlaubs mit Studienfreunden fand.

      Als ungeübte Wandrerinnen wollten meine beste Freundin und ich eigentlich schon nach ein paar Höhenmetern in der Mittagshitze aufgeben. Weitergelaufen sind wir nur aus Gruppenzwang und um uns nicht lächerlich zu machen. Als wir nach drei Stunden an der Gipfelhütte knapp 2000 Meter über dem Meeresspiegel angekommen waren, spürte ich nicht nur die unendliche Erleichterung, es geschafft zu haben, sondern auch das, was Jogger nach mehreren Kilometern fühlen: das sogenannte Runner’s High. Ein Glücksgefühl aus dem Nichts – das sogar noch mehrere Tage anhielt. Es kam nicht nur wegen des langen Laufens an der frischen Luft; die Berge machten mich auf einmal glücklich.

      Blick auf den Lago Maggiore oberhalb von Cannero Riviera.

      Je höher man steigt, desto einsamer wird es um einen herum. Man ist nur noch mit sich, vielleicht noch mit seiner Wandergruppe und den Bergen. Und das, was mir in den Jahren zuvor noch beklemmend erschien, empfand ich auf einmal als Freiheit. Ein Gefühl von Freiheit, das süchtig macht. Diese Meinung teilte übrigens schon die Schriftstellerin Elisabeth von Arnim (1866–1941): »Wandern ist die vollkommenste Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit.«

      Es gibt viele Arten, zu Fuß unterwegs zu sein, auf die ich im Einzelnen eingehen werde. Wo ist der Unterschied zwischen Wandern und Spazierengehen? Was unterscheidet den Flaneur von einem Wanderer? Ob man nun spazieren geht oder schon wandert, hängt auch von dem eigenen Sprachgebrauch ab. Umgangssprachlich bedeutet ›laufen gehen‹ zum Beispiel eher joggen. Mit einem Spaziergang verbinden wir meist eine gemütliche kleine Runde, die nicht anstrengend ist. Die Sportwissenschaft wiederum zieht bei ihrer Definition vom Wandern auch das Tempo heran: Sie verbindet mit Wandern eine Mindestgeschwindigkeit von etwa sechs Kilometern pro Stunde.

      Wandern ist auf jeden Fall ein idealer Ausdauersport. Ab wann jemand seine Aktivität nun als Wandern statt lediglich als Spazierengehen definiert, ist sicher individuell und hängt auch von der eigenen Fitness ab. Für den einen reicht bereits eine Stunde in der Natur oder im Wald, um sich als Wanderer zu fühlen; der geübte und ausdauernde Wanderer geht drei bis vier Stunden am Stück oder sogar länger. Andere verbinden Wandern mit den Bergen und bezeichnen alles, was im Flachland stattfindet, lieber als Spazierengehen.

      Für diejenigen, die nicht so gerne Ausdauersport betreiben, weil es ihnen zu anstrengend ist, gibt es übrigens gute Nachrichten: Für unseren Körper macht es keinen Unterschied, ob wir joggen oder nur gehen. Das haben die beiden US-Forscher Paul T. Williams und Paul D. Thompson im Jahr 2013 belegt. In ihrer Studie »Walking versus Running for Hypertension, Cholesterol, and Diabetes Mellitus Risk Reduction« werteten sie die Daten von rund 30 000 Joggern und etwa 16 000 Gehern aus. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass es für unsere Gesundheit keine Rolle spielt, ob wir gehen oder joggen, es sei vielmehr entscheidend, wie viel Energie wir verbrauchen. Allerdings müssen wir beim Gehen natürlich länger unterwegs sein als beim Joggen, um denselben Kalorienverbrauch zu erzielen.

      Ob wir nun wandern oder spazieren, es gilt auf jeden Fall eines: Es ist gesund. Wer sich viel bewegt, tut nicht nur etwas für seinen Körper, sondern auch für seine Psyche.

      Die Ursprünge des Wanderns

      Wandern kann man natürlich nicht nur in den Bergen, sondern auch im Wald oder sogar in der Stadt. Aber was ist genau eigentlich Wandern? Im Duden steht: »ohne ein Ziel anzusteuern, gemächlich gehen«. Unsere Vorfahren kannten daher das, was wir heute als Wandern bezeichnen, gar nicht. In der Steinzeit sind die Menschen durchaus mit Tierfellen bekleidet durch die Gegend gezogen, aber sie waren unterwegs, um zu jagen – ja, um zu überleben.

      Wandern – also Kilometer um Kilometer zu laufen aus purer Freude an der Bewegung – war anfangs nicht das Ziel der Menschen. Vielmehr legten sie große Distanzen zu Fuß zurück, weil es zunächst keine anderen Verkehrsmittel gab. Mit der Zeit wurden andere Fortbewegungsmittel erfunden wie zum Beispiel Pferdekutschen, die sich aber längst nicht jeder leisten konnte, ab dem 19. Jahrhundert die Eisenbahn sowie später Autos, Fahrräder und Flugzeuge. Arme Menschen, aber auch Handwerker und Händler, waren über Jahrtausende vornehmlich zu Fuß unterwegs.

      Im Mittelalter wanderten vor allem Angehörige dieser beiden Berufsgruppen, die meisten anderen Menschen führten kein sonderlich mobiles Leben, sondern verbrachten in der Regel ihr Leben am selben Ort. Die Händler zogen von