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Katja Brandis
Silberschatten
Erzählung
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Inhaltsverzeichnis
Wer den Drachen stört
Ich war vierzehn Sommer alt, als ich zum ersten Mal einem Drachen begegnete. An diesem Tag hatte ich mich auf schmalen Pfaden so weit in die Berge gewagt wie noch nie zuvor, um nach Frellja-Blüten Ausschau zu halten. Sie wachsen in großer Höhe, dort wo es das ganze Jahr über kalt ist, auf felsigem Boden. Bei der Suche fand ich eine Höhle und kletterte neugierig hinein. Es war völlig dunkel, und ich hatte keine Fackel. Doch ich merkte sofort, dass ich nicht alleine war. Langsame, tiefe Atemzüge ließen die Luft erzittern. Es roch trocken und staubig, nach Reptil, und ein wenig nach geronnenem Blut. Es musste ein Drache sein, der sich hier drin verbarg! Es war schon lange keiner mehr in Gabrún gesehen worden.
Eine lange Zeit blieb ich in der Dunkelheit stehen, hörte ihm zu und fühlte mein Herz pochen. Dann schlich ich mich wieder nach draußen.
Ich erzählte niemandem davon. Nicht nur, weil sie mich wahrscheinlich ausgelacht hätten. Dieser Moment in der Höhle gehörte mir ganz allein. Also bewahrte ich mein Geheimnis und plante, den Drachen bald noch einmal zu besuchen. Diesmal würde ich eine Fackel mitnehmen, damit ich ihn sehen konnte. Vielleicht konnte ich ihn über längere Zeit beobachten oder sogar kennenlernen. Doch dann kamen die Frühjahrsstürme, und zwei Tage später trafen vier erschöpfte Wanderer im Dorf ein und berichteten, dass eine Steinlawine den ganzen Pfad in Richtung des Norl-Passes weggerissen hatte. Es gab erstmal keine Möglichkeit mehr, zur Höhle zu kommen.
Fast genau zwei Winter war das nun her.
Zu Beginn war es ein Tag wie jeder andere. Ich hatte meine Pflichten auf dem Hof schon zur Hälfte erledigt und in unserer Binalla-Herde ein paar Dutzend Yuthais geerntet. Yuthais sind nur so klein wie ein Daumennagel und kriechen blind auf den plumpen Körpern der Binallas herum, von deren Blut sie sich nähren. Man muss sie vorsichtig herunternehmen und in einen Eimer setzen, damit sie sich nicht aufregen und ihr Aroma verdirbt. „Müssen die Binallas mal wieder scheren“, brummte mein Vater und warf eins der abgeernteten Tiere mit geübtem Schwung auf den Boden, um seine dichte graue Wolle zu untersuchen. Vergeblich zappelte es mit den beiden dünnen Beinen, die Binallas aussehen lassen wie Regenwolken auf Stelzen, und versuchte uns mit seinen langen Fußkrallen zu erwischen. „Morgen, würde ich sagen“, fuhr mein Vater unbeeindruckt fort. „Du und Fendec, ihr macht das. Leider ist Damian krank und kann uns nicht helfen.“
Als ich das Wort „krank“ hörte, horchte ich auf. Sobald mein Vater in die Scheune zurückgestapft war, zwei unserer Izu auf den Fersen, eilte ich zum Hof zurück. Schnell packte ich ein paar Früchte in einen Korb, hängte mir meine Tasche um und eilte zu Damians Hütte. Einer der anderen Izu folgte mir und rannte voraus – bei jedem Sprung breitete er die Stummelflügel aus und glitt ein Stück durch die Luft. Ab und zu hielt er an, um auf mich zu warten, und schwenkte den breiten, hornigen Kopf witternd nach rechts und links.
Schon von weitem hörte ich Damian husten. Das klang sehr vielversprechend!
Damians Frau öffnete mir. Sie lächelte, als sie mich sah. „Hab mir schon gedacht, dass du kommst, Jesko. Oh, das ist nett, dass du uns etwas mitgebracht hast.“
„Darf ich reinkommen?“ fragte ich.
„Willst du wirklich? Aber pass auf, dass du dich nicht ansteckst...“
„Leider nicht zu erwarten“, sagte ich mit schiefem Lächeln. Meine ganze Familie war geradezu widerlich gesund. Ich befahl dem Izu, draußen zu warten, und ging hinein.
Damian lag mit hochrotem Kopf im Bett und blickte mich aus fiebrig glänzenden Augen an. „Nein!“ sagte er, als er mich sah. „Nein, auf gar keinen Fall! Ich will dein Teufelszeug nicht!“
„Es ist kein Teufelszeug. Hier, Moment...“ Hastig kramte ich in meiner Tasche und zog ein Bündel getrocknetes Kreuzblättlerkraut heraus. „Zweimal am Tag mit Wasser aufkochen, dann seid Ihr morgen wieder gesund!“
Doch Damian roch nur einmal kurz daran und verzog das Gesicht. „Das stinkt ja wie Izu-Pisse. Vergiss es.“
„Wir haben den Geistheiler schon bestellt“, mischte sich Damians Frau ein und zog mich freundlich, aber bestimmt wieder aus Damians Zimmer. „Als ich neulich schreckliche Kopfschmerzen hatte, hat er einen kleinen Hügelgeist beschworen – es hat wunderbar gewirkt...“
Niedergeschlagen ging ich zu unserem Hof zurück. Wenn das so weiterging, würde meine ganze Kräutersammlung in der Truhe daheim einstauben und seine Wirkung verlieren! Und das, nachdem ich meine wenigen freien Stunden dafür geopfert hatte, all die Pflanzen im Hügelland, auf den Ebenen am Fluss und auf Berghängen aufzuspüren...
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich erst spät merkte, dass auf dem Dorfplatz Leute zusammenströmten. Neugierig folgte ich ihnen. Mein älterer Bruder Fendec war da, er streifte mich mit einem gleichgültigen Blick. Meinen Vater sah ich nirgends. O je, da war auch die alte Marja. So unauffällig es ging wich ich ihr aus. Sonst fragte sie mich wieder, wann sie endlich ihr Buch zurückbekam. Vor drei Wintern hatte ich behauptet, dass ich mich für Heilkunde interessiere, und mir von ihr ein altes Kräuterkunde-Buch geliehen. In Wirklichkeit wollte ich das Buch nur, weil Fendec erzählt hatte, dass darin das Rezept für einen besonderen Trank stand. Einen Trank, der Schüchternheit gegenüber Mädchen wegzauberte. Leider war das Buch in so verschnörkelter Schrift geschrieben, dass ich das blöde Rezept immer noch nicht entdeckt hatte, falls Fendec es nicht sowieso erfunden hatte. Dafür hatte ich schon alle Krankheiten von A bis M durch – was für Kräuter dagegen halfen, wie man sie fand und zubereitete. Das war interessanter, als ich gedacht hatte.
Als ich die Reiter auf dem Dorfplatz sah, vergaß ich Marja und das Kräuterbuch. Die Reiter trugen glänzende Rüstungen, Lederhelme und Umhänge von der Farbe des Sommerhimmels. Das Zeichen Gabrúns, der Kopf eines Einhorns, war in ihre Schilde eingeprägt und prangte auf der Flagge, die einer der Reiter trug. Das waren Leute des Königs! Einer von ihnen fiel mir besonders auf. Es war ein schmächtiger Junge, kaum älter als ich. Er hatte kurze, dunkelblonde Locken und ein eigenartiges Drahtgestell mit Glaskreisen auf der Nase. Sein Pferd war herrlich, ein grauer Hengst mit edel gebogenem Hals und silberbeschlagenem Zaumzeug.
„Der Junge da... das ist Prinz Kendan!“, hörte ich jemanden sagen, und auf einmal flüsterte es von überall her: „Der Prinz ist hier... der Prinz... hier in unserem Dorf!“
Neugierig beobachtete ich Kendan. Nie hätte ich gedacht, dass ich ihn einmal mit eigenen Augen sehen würde – Burg Aquilar, wo er und sein Vater Giélo III. lebten, lag viele Tagesreisen weit im Süden. „Was hat er da auf der Nase?“ fragte ich eine junge Amme, die neben