Christine Jörg

Geh in die Wueste


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die Stufen in den zweiten Stock hinauf und mit hängendem Kopf schloss sie die Wohnungstüre auf. Gabi war nicht zu sehen. Besser so!

      Ruth eilte sofort in ihr Zimmer und verriegelte die Türe. Kurz danach klopfte es. Die Klinke bewegte sich.

      „Hey, Ruth“, hörte sie Gabis Stimme durch die verschlossene Türe.

      Ruth überlegte sich, ob sie der Freundin die Türe öffnen sollte oder besser nicht. Schließlich entschied sie sich dafür. Sie erhob sich und ging zur Tür. Langsam drehte sie den Schlüssel im Schloss. Gabi stand vor ihr und schaute sie neugierig an.

      „Was ist passiert?“, wollte die Freundin sofort wissen.

      „Nichts“, Ruth schüttelte den Kopf, „wir haben gegessen und uns unterhalten. Es war schön. Dann sind wir spazieren gegangen, auch das war okay. Als er dann unten vor der Türe erfahren hat, dass ich am Wochenende nicht da bin, hat er nur gesagt, er meldet sich, und weg war er.“

      „Aha“, war alles was Gabi sagen konnte oder wollte. „Na ja, wenn er sagt, er meldet sich, dann wird er es auch tun. Hat er ja heute auch gemacht.“

      „Ja“, überlegte Ruth, „aber das war doch etwas anderes. Wir hatten uns nur einmal gesehen. Er denkt bestimmt, ich fahre nach Hause und habe da einen Freund.“

      „Vielleicht“, bestätigte Gabi, „dann musst du es ihm eben erklären.“

      „Du hast leicht reden“, fuhr Ruth etwas verärgert ihre Freundin an. „Was soll ich denn machen, wenn er sagt, er wohnt in einem Wohnheim für ausländische Studenten und ans Telefon würde sowieso niemand gehen. Und wenn einer abhebt, ruft er nicht die gefragte Person.“

      „Ist jetzt auch egal“, versuchte Gabi ihre Freundin zu beruhigen, „ändern kannst du es heute Abend auch nicht mehr.“

      „Genauso ist es“, dabei ließ sich Ruth schwer in den Sessel fallen, in dem vor ein paar Stunden Fernando gesessen hatte.

      „Wenn er sich nicht mehr meldet, musst du eben zu dem Wohnheim fahren und mit ihm reden. Eine andere Lösung sehe ich nicht“, schlug Gabi vor.

      „Ich laufe ihm doch nicht nach“, sagte Ruth, der Tränen in die Augen traten, patzig.

      „Wie du meinst. Und wie ist er sonst?“, Gabi war neugierig geworden und setzte sich zu Ruth auf die Sessellehne.

      „Ich bin total in ihn verliebt“, mit verträumten Augen starrte Ruth an Gabi vorbei ins Leere.

      „Gut“, sagte Gabi nüchtern und stand wieder auf. „Dann brauche ich nicht weiter zu fragen, wie er ist, weil ich doch keine objektive Antwort von dir bekomme.“

      Ruth schien sie nicht zu hören, denn sie sagte: „Und wie er meine Hand genommen hat.“

      „Ach!“, rief Gabi verwundert aus, „Händchen gehalten habt ihr auch schon!“

      Das Läuten des Telefons riss Ruth aus ihren Gedanken. Sie wollte aufspringen, doch sie ließ sich einfach wieder in den Sessel zurückfallen als sie sah, dass Gabi zum Telefon rannte und sich meldete.

      „Ruth“, hörte sie ihren Namen, „für dich.“

      „Wer ist es?“, Ruth hatte keine Lust auf ein Telefongespräch mit irgendjemandem. „Ich bin nicht da“, rief sie zurück.

      „Nein, das sage ich jetzt nicht“, widersetzte sich Gabi.

      Langsam und unwillig erhob Ruth sich trotzdem und ging ans Telefon.

      „Ja“, sagte sie lustlos. Doch dann stellte sie sich plötzlich stramm hin und begann zu strahlen.

      „Ruth“, hörte sie Fernandos Stimme, „ich möchte mich bei dir entschuldigen, weil ich vorhin einfach verschwunden bin. Aber ich war so enttäuscht, dass du am Wochenende nicht da bist.“

      „Ist schon in Ordnung“, Ruths Welt sah rosarot aus.

      „Weißt du?“, fuhr Fernando fort, „ich habe vergessen, dass du hier in der Nähe wohnst und natürlich am Wochenende nach Hause fährst.“

      „Ich fahre nicht jedes Wochenende nach Hause“, klärte Ruth ihn auf, „aber für dieses ist alles schon geplant.“

      „Wann kommt denn euer Zug am Sonntagabend an?“, erkundigte sich Fernando nun, „ich hole euch ab.“

      „Um 21:50 Uhr am Hauptbahnhof“, sagte Ruth prompt.

      „Ich werde zur Stelle sein“, bestätigte Fernando nochmals. „Und Ruth...“

      „Ja, Fernando“, säuselte diese.

      „…vielen Dank für den schönen Abend“, sagte er lachend.

      „Wenn sich hier einer bedankt“, meinte Ruth nun, „dann bin ich das. Es war wirklich ein schöner Abend.“

      „Freut mich“, stellte Fernando fest. „Wir sehen uns also am Sonntagabend.“

      „Ja, ich freue mich schon“, gestand Ruth ihm.

      „Ich auch“, erwiderte Fernando, „und schönen Abend noch.“

      „Ja, dir auch“, gab Ruth zurück. Fernando hängte ein. Auch Ruth legte langsam und nachdenklich den Hörer auf die Gabel.

      „Siehst du“, stellte Gabi lächelnd fest, „er meldet sich doch. Und du überlegst schon Wenn und Aber.“

      „Oh, ja“, Ruth packte Gabi bei den Schultern und begann mit ihr im Flur zu tanzen. „Er hat sich gemeldet, er hat sich gemeldet. Ich bin verliebt“, sang sie und ließ Gabi nicht mehr los. Diese befreite sich mühselig und begab sich in sichere Entfernung vor Ruth um nicht noch einmal herumgewirbelt zu werden.

      2

       Inzwischen hat Ruth den Bahnhof erreicht. Sie begibt sich in die Halle, zieht ihre Brille aus dem Etui und studiert den Fahrplan. Schon seit zwei Jahren benötigt sie eine Brille zum Lesen. Es stört sie zwar, aber ändern kann sie die Tatsache nicht. Die Fahrkarte hat sie bereits in der Tasche. Sie hat sie am Vortag gekauft. Nun muss sie nur herausfinden, auf welchem Gleis der Zug abfährt.

       Noch hat sie zehn Minuten Zeit und schlendert in die Bahnhofsbuchhandlung. Zeitschrift möchte sie keine kaufen, doch einen Blick kann man wagen.

       Die Tageszeitung hat sie in der Tasche und auch ein Buch. Schließlich hat sie genügend ungelesene Bücher zu Hause. Also wird nichts gekauft.

       Langsam verlässt sie die Buchhandlung, steigt die Stufen in der Unterführung hinunter, durchquert den Tunnel und nimmt langsam Stufe um Stufe auf der anderen Seite. Nun steht sie auf dem Bahnsteig. Einige Frühaufsteher, die zur Arbeit fahren wollen, lungern mit verschlafenen Gesichtern herum und warten, genau wie Ruth, auf den Zug.

      *

      Nachdem Fernando Ruth und Gabi am Sonntagabend vom Bahnhof abgeholt hatte, blieb er die Nacht bei Ruth.

      „Ihr seid wirklich wie für einander geschaffen“, stellte Gabi einmal überraschend fest. Sie, die immer einen so kühlen und überlegten Kopf hatte, schien ebenfalls davon überzeugt zu sein, dass Ruth und Fernando noch einen langen, gemeinsamen Weg vor sich hatten.

      Nach einem Monat einigten sich die Frauen darauf, es sei vernünftiger Fernando einen eigenen Wohnungsschlüssel zu überlassen, da er inzwischen mehr Zeit bei Ruth verbrachte als in seinem Zimmer im Wohnheim.

      „Was, das ist dein Zimmer!“, rief Ruth an dem Tag, als Fernando sie mit ins Wohnheim nahm und ihr zeigte, wo er hauste.

      „Kein Wunder, dass es dir hier nicht gefällt“, stellte sie nüchtern fest. „Das ist ja fast wie in einer Gefängniszelle.“

      „Na ja, so schlimm ist es vielleicht nicht“, milderte Fernando das Urteil ab, „aber gemütlich ist es auch nicht gerade.“

      „Das