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Helmut H. Schulz
Wandlungen
Zur Soziologie Umerzogener
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Inhaltsverzeichnis
Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lehren
Edeltraut W. und die Wirkung des Unterbewusstseins
Die Muttergottes von den jungen Pionieren
Lebensbild um 2*** in einer deutschen (-europäischen) Stadt
Einführung
Auf der Uferpromenade entlang eines breiten Stromes wandelten um die Osterzeit des Jahres 2*** zwei Männer. Obschon von See her ein scharfer Wind blies, hatten sie ihre Mäntel geöffnet. Der Jüngere von beiden führte das Wort. Schließlich sagte er: "Unser gemeinsamer Gang durch Ihr Museum deutscher Geschichte, alle diese Exponate, Bilder und Schaustücke reizen meinen Wissensdurst eher an, als ihn zu befriedigen."
"Fragen Sie nur", sagte der andere Herr zuvorkommend, "nutzen Sie die Gelegenheit zur Unterrichtung, ehe Sie in Ihre ferne Region zurückkehren. Nehmen Sie mich als Ihren Mentor; ich stelle mich gern zur Verfügung, wenn ich Ihnen nützlich sein kann."
"Sie müssen wissen", sagte der zum Eleven ernannte jüngere Herr erfreut "dass ich an einer der besten kosmischen Hochschulen Sprache und Kultur der Deutschen mit Liebe und Achtung studiert habe. Dieser Aufenthalt hier sollte mein Wissen abrunden ... indessen bin ich im höchsten Grade verwirrt und zweifle an mir selber".
Hier brach der Mentor in ein herzliches Lachen aus; sammelte sich mühsam und sagte entschuldigend: "Sie haben studiert, was wir Heutigen als die kulturelle und politische Wirklichkeit einer unserer rohesten historischen Perioden unserer Nation, begreifen, die abgetane Vorform unseres heutigen gesellschaftlichen Seins in einer demokratischen, kulturell offenen Gesellschaft. Verzweifelt wie vergebens haben Sie nach den Spuren jener nationalen Kultur gesucht, die Sie lieben. Allein ich versichere Ihnen, dass sich niemand mehr in den anachronistischen Zustand eines deutschen Nationalstaates zurücksehnt, ohne den eine solche Kultur nicht gedeihen kann. Ich schmeichle mir, zu den Lehrern und Umerziehern zu gehören, die diesem Volk mit Erfolg eingeredet haben, es hätte den Nationalstaat irgendwann im Dämmer seiner Frühgeschichte verfehlt. Wie wenig Sie mit Ihren Kenntnissen in der deutschen Sprache anfangen konnten, haben Sie wahrscheinlich zu Ihrer Bestürzung ebenfalls feststellen müssen. Wenn es Sie tröstet; über fundierte Deutschkenntnisse verfügen nur noch einige wenige Germanisten. Deutsch wurde von der zuständigen internationalen Behörde unter die nicht förderwürdigen Sprachen eingereiht; damit wurden den Universitäten natürlich die Mittel entzogen, aber das macht nichts, solange wir uns in ontischer Sprache (ontogenetische Sprachentwicklung) vortrefflich verständigen können, allerdings auf sehr niedriger Stufe, versteht sich."
"In der Tat, aber wie verständigen Sie sich eigentlich untereinander, da Ihnen eine gemeinsame Sprache fehlt?" "Regional ist die Amtssprache noch deutsch", sagte der Mentor. "Was eine Region ist, werde ich Ihnen zu gegebener Zeit erklären. - Nachrichten und Informationen werden in verschiedenen Sprachen oder in Idiomen gehalten, mit deutschsprachigen Legenden am Bildrand des Teleschirmes oder in der Druckpresse. Der zuständigen Behörde liegen angeblich Anträge aus verschiedenen Alpha-Ländern vor, deutsch als Verkehrssprache zu verbieten; allein das wird hier für ein gezieltes Gerücht gehalten, obschon diese Entwicklung unvermeidlich ist. - Im Alltag genügt derzeit noch ein Kauderwelsch mit sehr niedrigem deutschen Wortschatz und einer Vielzahl Leihwörter. Kompliziertere Sachverhalte werden auf Formeln verkürzt; sie müssen glücklicherweise auch gar nicht mehr verbreitet werden. Aber wir haben so etwas wie ein oberstes Dogma, vergleichbar mit dem Nationalfest des höchsten Wesens vom 20. Prairial der Revolution, der Glaubenslehre Robespierres; Sie erinnern sich wohl? Revolution hat eben immer etwas mit Religiosität zu tun. - Nun, unser Dogma ist das von der Vortrefflichkeit des Parteienstaates; es ununterbrochen zu vermitteln, gehört zu den Aufgaben der Presse, der Universitäten, die ziemlich bedeutungslos geworden sind, und allen Gliederungen der offenen Gesellschaft, bis hin zu Vereinen und dergleichen. Zwei deutsche Wörter aus der Zeit um die Jahrtausendwende sind allerdings überliefert: unumkehrbar und betroffen; sie werden Ihnen immer wieder begegnen, als Non plus Ultra der Albernheit."
"Ich darf Ihnen nicht widersprechen, da Sie die Verhältnisse zweifellos genauestens kennen, aber aus welchen Ursachen kam es zu diesem kulturellen Verlust und was wurde nun eigentlich gewonnen, dass die Preisgabe jahrhundertealter kultureller Werte rechtfertigte? Verzeihen Sie meine Naivität."
"Gewonnen wurde nichts. Allein diese Katastrophe war nicht aufzuhalten. Katastrophe in Anführungszeichen, denn wir sind ja zufrieden mit dem, was wir haben. Zunächst einmal passte sich während einer mehr als vierzigjährigen Okkupation im vergangenen Jahrhundert etwa bis zur Jahrtausendwende die damalige deutsche Kultur der unserer Sieger an. Ich kann Ihnen diesen komplizierten Vorgang aus brutaler Unterdrückung, wie der Entfernung missliebiger Bücher aus öffentlichen Bibliotheken, den Verboten bestimmter Filme, einiges an Dramatik und Musik und freiwilliger Unterwerfung, aus dem Mangel an Selbstwertgefühl, eingebildeten Schuldkomplexen, die jeden Verlierer heimsuchen, wirklicher Schuld einzelner Personen und Ratlosigkeit in der Kürze nicht darstellen. Aber jede Unterwerfung im politischen, sozialen und kulturellen Leben beginnt mit einem Wandel in der Sprache. - Ihnen ist sicher das bunte Gemisch menschlicher Wesen aller Herren Länder bei uns aufgefallen; hier haben Sie einen zweiten Aspekt der Entwicklung hin zum kulturellen Verfall, der zuletzt als unvermeidbar dargestellt und empfunden wird. Alle jene, die von überall her kamen und noch kommen, halten natürlich an ihren Kulturen fest, also vornehmlich an ihrer Sprache, der wichtigsten kulturellen Überlieferung, zweitens an ihren Religionen; all dies zusammengenommen führte zuletzt zur Bildung kultureller Enklaven im ehemaligen Gastland. Wir unsererseits sind freilich unbeschreiblich glücklich darüber, dass in unserem Lande die ganze Welt zu Hause ist. Das war nicht immer so; noch gegen Ende des vergangenen Jahrtausend gab es Rassenkämpfe und soziale Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt, gab es Ängste wegen einer angeblichen Überfremdung. - Nun, dies alles konnte durch Predigten und Lichterketten, sowie durch geeignete polizeistaatliche Maßnahmen allmählich überwunden werden".
"Als Soziologe bin ich ganz auf Erfahrungen angewiesen", sagte der Eleve eifrig, "auch bin ich froh, einem überlegenen Kenner dieser Periode des Verfalls lauschen zu dürfen. Ihre Erklärung leuchtet mir zwar ein, aber bescheiden weitergefragt; sind denn alle glücklich über diese Austauschbarkeit der Kulturen? Wäre es nicht sinnvoller, jene Kulturen dort zu belassen, wo sie einmal entstanden sind und sich zweifellos besser und kräftiger hätten entwickeln können? Mir fiel auf, dass Ihre Städte aus einzelnen belagerten Festungen bestehen, was