Christian Friedrich Schultze

Westdämmerung


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      Christian Friedrich Schultze

      Westdämmerung

      Die Geschichte eines Untergangs

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Ungewissheiten

       Freiheiten

       Treu und Glauben

       Millennium

       Terror

       Kriege

       Bankrotte

       Wahrheiten

       Epilog

       Impressum neobooks

      Ungewissheiten

      1.

      Jetzt also hatte er Gewissheit!

      Und es gab keinen Grund, seinem Freund Thomas Deutscher nicht zu glauben. Nun hatte es auch ihn erwischt! Wieso auch nicht? Schließlich lag es ja in der Familie. Es hatte keinen Zweck, sich darüber zu ärgern, dass so etwas anscheinend vererblich war. Wieso und warum, darüber rätselte die Wissenschaft schon jahrelang. Es war vielleicht eine Sache des Zufalls. Manche traf es eben, manche nicht.

      Der Vater war daran gestorben; vor dreiundzwanzig Jahren dann auch die Mutter; vor zwei Jahren schließlich Sibylle. Und nun war eben er an der Reihe. Der Tod war sicher, nur wann es einen ereilte, war ungewiss.Immer noch war er überrascht, wie plötzlich es gekommen war. Mit dem beginnenden Frühjahr hatte er seinen 70. Geburtstag gefeiert. Lothar, inzwischen dreiundvierzig, und Maren, seine späte Tochter, noch nicht einmal zwanzig, waren mit ihren Partnern und den Enkeln gekommen. Und auch Barbara, Wauers Geschiedene aus erster Ehe, hatte es sich nicht nehmen lassen, bei dieser Gelegenheit die Kinder und Enkel zu treffen. Am Abend, nach der kleinen Familienfeier, hatte er nach einigen Gläsern von seiner edlen Whiskyreserve noch gedacht, dass er es nun wohl geschafft haben und zu denen gehören würde, die erst im hohen Alter das Zeitliche segnen.

      Kaum vier Wochen danach begannen die Veränderungen. Anfangs ganz unmerklich, dann aber bald heftiger. Zuerst ließ sein sonst so guter Appetit nach. Nicht einmal mehr auf einen Rotwein oder ein argentinisches Steak hatte er Lust. Dann kamen die fürchterlichen Kopfschmerzen. Nicht lange danach bemerkte er, dass sich seine Haut veränderte. Sie wurde fahler, sie ergraute quasi, wie seine Haare schon lange ergraut waren. Als er dann Ende Mai das erste Mal Blut im Stuhl entdeckte, ahnte er sofort, was folgen würde. Schließlich hatte er doch Thomas angerufen und um einen Termin gebeten. Sein letzter Gesundheitscheck hatte zwei Jahre zurück gelegen. Der Freund hatte deshalb ein bisschen geschimpft und eine umfassende Untersuchung angeordnet. Wauer hatte, ohne zu murren, alles über sich ergehen lassen und alles Georderte abgegeben: Blut, viel Blut, Urin, Stuhl. Schon nach einer Woche war er wieder einbestellt worden.

      "Ich weiß, was du hören willst, ist mir schon klar“, hatte der Arzt mit ernster Miene gemeint: „Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Das sagen die Meisten, auch wenn sie es in Wirklichkeit nicht verkraften können. Aber ich weiß noch nicht genug. Deine Blutwerte sind jedenfalls beschissen. Zu viele Leukozyten und auch dein Stuhltest und die Urinanalyse deuten darauf hin, dass du ziemlich krank bist. Aber wir müssen dich noch durch die Röhre schicken, erst dann können wir was Gültiges sagen. Wir wollen möglichst vollständige Gewissheit. Wir können dich nicht auf bloße Vermutungen hin aufmachen.“

      Thomas Deutscher hatte ihn sodann in die Uniklinik „Carl Gustav Carus“ nach Dresden überwiesen. Kurze Zeit nach der PET-Prozedur kam die unumstößliche Diagnose: „Pathologisch neue Zellbildungen im Dünndarmbereich, Metastasenbildung teilweise nachweisbar, zwei karzinome Herde. Siehe beiliegendes Bildmaterial.“

      Der Freund hatte ihm das „Bildmaterial“ gezeigt und es stand unverrückbar fest: Darmkrebs im mittleren Entwicklungsstadium, wie vor über zwanzig Jahren bei seiner Mutter.

      Vom Kreiskrankenhaus bis zum Weinaupark war es nicht weit. Bei einem Spaziergang auf den schattigen Wegen unter den alten Eichen konnte er an diesem frühsommerlichen Spätnachmittag ungestört seinen trüben Gedanken nachhängen und die nächsten Schritte abwägen. Was er in einem Falle wie diesem machen würde, war er schon früher hunderte Male im Geiste durchgegangen.

      Er würde es nicht so weit kommen lassen wie Vater oder Mutter. Mit Sibylle war es freilich etwas anderes gewesen. Das Sterben seines Vaters hatte er nicht derart hautnah miterlebt. Aber bei ihr und seiner Mutter hatte er das Spätstadium dieser „Krankheit“ bis zum bitteren Ende tagtäglich vor Augen gehabt. Niemandem seiner Umgebung, vor allem nicht seinen Kindern, wollte er so etwas zumuten. Davon hatte niemand etwas! Und die Folter der Hoffnung, die er mit der dahinsiechenden Mutter wochenlang ertragen musste, würde er sich und allen anderen ersparen: Mit jedem neuen Tag, an dem es ihr schlechter ging, war ihre Hoffnung gestiegen, dass ihre Gebete erhört würden und eine Wende zur Besserung einträte.

      Seinen Plan hatte er sich bereits damals zurechtgelegt, aber dann eine Weile vergessen. Doch diesmal hatte er vorgesorgt. Nicht mit Hilfe seines Freundes, denn der lehnte Sterbehilfe aus religiösen Gründen kategorisch ab. Mit der ihm eigenen Ironie wies er darauf hin, dass viele Kranke trotz der medizinischen Behandlungen wieder gesund geworden seien. Es hatte einen anderen Arzt gegeben, für den Wauers Büro vor ein paar Jahren eine moderne Villa am Rande von Zittau projektiert und die Bauleitung dazu durchgeführt hatte. Mit ihm hatte er beim Richtfest und bei der späteren Übergabe des mondänen Hauses über das heikle Thema gesprochen. Der Mann verstand sofort, was er meinte und hatte ihm versprochen, das erforderliche, absolut zuverlässige Mittel zu besorgen. Wauer müsste lediglich das Verfallsdatum der Droge beachten. Die Frage war allerdings, wie lange er die Krankheit vor seinen Lieben geheim halten konnte und wann für ihn die Zeit unwiderruflich gekommen war. Er würde anordnen, dass sie ihn im Zittauer Krematorium verbrannten.

      2.

      Es war an einem klaren, blauen, sonnigen Septembertag des Jahres 1992, als sie Mutter Helene neben ihrem despotischen Ehemann Karl auf dem Großschönauer Bergfriedhof zur letzten Ruhe betteten. Und es war wieder ein Freitag gewesen. Zehn Jahre und sechs Monate nach Vater Wauers Beerdigung war nahezu die gleiche Gemeinde auf dem gleichen Gottesacker zusammengekommen wie damals, an jenem kühlen, Vorfrühlingstag im März 1982, als man ihn zu Grabe getragen hatte. Siebzig Jahre alt war sie nur geworden. Immerhin hatte sie ihren sieben Jahre älteren Gatten um zehn Jahre überlebt. Aber ein langes oder gar frohes Leben hatten sie nicht gehabt. Möglicherweise hatten sie selbst es als ein erfülltes Leben empfunden. Aber Weltkrieg und Nachkriegszeit hatten von den beiden Alten schließlich ihren Tribut gefordert.

      Auch diesmal waren eine Menge Leute aus der Kirchengemeinde zum Begräbnis erschienen; dazu Lothar, Sibylle natürlich mit ihrem Sohn Christian, die Familie seiner Schwester Beate und Cousin Robert mit Frau Renate und Tochter Silvia. Sogar Wauers Geschiedene, Lothars Mutter Barbara, war nach einer langen Zeit gewollter Kontaktpause zur Abschiedsfeier von der ehemaligen Schwiegermutter gekommen.

      Während