Edgar Wallace

Der Doppelgänger


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      LUNATA

Der Doppelgänger

      Der Doppelgänger

      Kriminalroman

      © 1924 by Edgar Wallace

      Originaltitel Double Dean

      Aus dem Englischen von Ravi Ravendro

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       Kapitel 12

       Kapitel 13

       Kapitel 14

       Kapitel 15

       Kapitel 16

       Kapitel 17

       Kapitel 18

       Kapitel 19

       Kapitel 20

       Kapitel 21

       Kapitel 22

       Kapitel 23

       Kapitel 24

       Kapitel 25

       Kapitel 26

       Kapitel 27

      1

      Sie ist eine Waise«, sagte Mr. Collings gerührt. Für Waisen hatte er eine besondere Vorliebe. Sonst war er als Rechtsanwalt im Verkehr mit seinen Klienten ein strenger, etwas zurückhaltender Mann, der gern zum Abschluss von Vergleichen riet. Es kamen Klienten in sein Büro, die ganz sicher waren, daß ihre Feinde sich selbst in ihre Hände gegeben hatten. Sie sprachen von Schadenersatzforderungen, die sich auf fünfstellige Zahlen beliefen und den vollkommenen Ruin von Leuten oder Firmen bedeuteten, die sie beleidigt hatten. Aber als sie wieder fortgingen, waren alle ihre Berechnungen über den Haufen geworfen und ihre Zukunftspläne vernichtet. Mr. Collings glaubte nun einmal nicht, daß Prozesse vorteilhaft seien. Seiner Meinung nach war es viel besser, alle Streitfragen gütlich beizulegen.

      Wenn ein Ermordeter aus seinem Grabe auferstehen, in Mr. Collings Büro kommen und sagen könnte: »Ich habe eine ganz einwandfreie Klage gegen Binks. Er hat mich erschossen. Sie sind doch davon überzeugt, daß ich einen Schadenersatzanspruch an ihn stellen kann?«, dann würde Mr. Collings geantwortet haben; »Das ist noch gar nicht sicher. Ich zweifle daran. Man könnte auch sehr viel zugunsten von Mr. Binks anführen. Haben Sie sich nicht auf seine Kosten bereichert? Sind Sie nicht selbst in einer unangenehmen Lage? Sie tragen doch zunächst einmal ein Geschoss im Leibe herum, das zweifellos das Eigentum von Mr. Binks ist. Man kann nie genau wissen, welchen Standpunkt das Gericht einnimmt. Ich gebe Ihnen den guten Rat, mich zu Vergleichsverhandlungen zu ermächtigen.«

      Aber wenn es sich um Waisen handelte, war Mr. Collings weich wie Butter. Seine Eltern hatten ihn einfach und streng erzogen, und er hatte sonntags fromme Bücher lesen müssen, in denen von Waisen, von gutherzigen Drehorgelspielern und von kleinen Mädchen erzählt wurde, die viel aus guten Büchern lernten, später als Missionsfrauen nach Afrika gingen und dort starben, tief betrauert und beweint von den bekehrten Eingeborenen. Die schlechten Menschen in diesen Geschichten waren meistens junge Burschen, die heimlich die Rosinen aus dem Kuchen nahmen, nur weißes Brot aßen und die Krusten wegwarfen. Sie mißhandelten die Hunde und traten sie mit Füßen, fingen die Fliegen, warfen sie in die Netze der Spinnen und beobachteten mit grausamer Freude und Mordlust, wie diese über ihre armen Opfer herfielen und ihnen das Blut aussaugten.

      »Sie ist eine Waise«, sagte Mr. Collings noch einmal und seufzte vernehmlich.

      »Sie ist schon seit zehn Jahren eine Waise«, entgegnete Mr. William Cathcart zynisch.

      Mr. Collings war untersetzt, hatte einen kahlen Kopf und hielt gern nachmittags ein kleines Schläfchen. Mr. Cathcart war im Gegensatz zu ihm mager, hatte ein schmales Gesicht und volles Haar. Auch schlief er niemals tagsüber, wie man wußte. Er haßte Waisenkinder. Stets gab es ihretwegen unangenehme Auseinandersetzungen über die Elternschaft, über testamentarische Bestimmungen, und immer hatte man Schreibereien mit dem Vormundschaftsgericht. Am liebsten hätte er sich hinter Stacheldraht gegen Waisen verschanzt.

      »Sie ist die sonderbarste Waise, die mir jemals begegnet ist«, fuhr Mr. William Cathcart erbarmungslos fort. »Dem Gesetz nach ist sie noch ein Kind, aber sie hat ein Bankguthaben von hunderttausend Pfund. Ich vergieße ihretwegen keine Träne – das dürfen Sie mir glauben!«

      Mr. Collings wischte sich die Augen.

      »Aber sie ist doch eine Waise!« Er versuchte vergeblich, das steinharte Herz von Mr. Cathcart zu erweichen.

      »Mrs. Tetherby hat ihr das Geld geschenkt, während sie noch lebte – daran ist doch nichts Besonderes. Wenn ich einem Waisenkind« – er schluckte und wollte seine Rührung verbergen – »einen Schilling, ein Pfund, ja selbst tausend Pfund schenkte, so wäre das doch kein Bruch des Gesetzes oder eine Ungehörigkeit, selbst wenn ich es Tag für Tag täte?«

      Mr. Cathcart dachte nach.

      »Unter gewissen Umständen könnte es doch ein Unrecht sein«, meinte er dann.

      Mr. Collings verwahrte sich dagegen, aber er wollte nicht verletzend werden.

      »Mrs. Tetherby war träge. Starke Frauen sind oft so.«

      »Sie war direkt faul«, erwiderte Cathcart.

      »Es gibt nur wenig Tanten, die Zuneigung zu ihren Nichten fühlen.