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Nicole Seidel
Besessen
Ein Lord von Gram und Grausamkeit
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Inhaltsverzeichnis
1 Das Schloss der Nebel und Schatten
3 Hinter Mauern einer großen Stadt
1 Das Schloss der Nebel und Schatten
Das Erwachen an diesem Morgen war wieder schmerzlich und voll von klaren, blutigen Träumen. Schlaflos waren die allgegenwertigen Gedanken und erholsam nur der ewig dauernde Schlaf. Doch noch durchflutete endloses Leben den gestählten Körper des Mannes.
Lord Jucon Alde'Atair ließ sich in den morgendlichen Sonnenstrahlen baden und fuhr mit tauben, langen Fingern über seine samtene, helle Haut. "Wieder erwartet mich ein endloser, einsamer Tag", murmelte er zu sich selbst.
Selten war er gewillt aufzustehen, tat es aber jeden Tag aufs Neue. Auch mochte er nicht mehr das herbe Leder seiner Kleidung am makellosen Leib spüren, es erinnerte ihn zu sehr an sein einstiges Leben. Und an sein altes Dasein wollte er keinesfalls mehr erinnert werden, es versetzte ihm jedes Mal einen Stich ins Herz. Er wollte ein anderer sein, deshalb blieb Hemd und Hose, Stiefel und Jacke dort, wo sie seit langer Zeit lagen: zusammen gelegt in einer verschlossenen Truhe.
Sollte er sich Gedanken über einen unterwarteten Besuch machen, der ihn so entblößt sehen und Anstoß daran nehmen könnte? Nein, das tat der Lord nicht. Ihn besuchte niemand. Nicht einmal einen verirrten Wanderer hatte Jucon im letzten vergangenen Jahrzehnt am Tor seines Schlosses abweisen müssen.
Von Bediensteten und Wachgardisten war ebenfalls nichts zu sehen, da er keine besaß. Er war allein. Worin bestand dann sein Dasein?
Jucon Alde'Atair führte ein beschauliches, einfaches Leben. Der Lord war zu einem Einzelgänger und Jäger geworden, war ein lautloser ungehörter Dichter und bewohnte ein fantastisches Schloss. Er vertrieb sich die Zeit mit schwimmen, Scheinkämpfen, reiten und jagen. Seine einzigen treuen Gefährten in dieser Abgeschiedenheit waren ein schwarzer Hengst mit weißen Augen und ein grauer Wolf mit langem Fell.
Ein gelber Knochenkamm fuhr durch sein weißblondes Haar, als bestünde es aus Silber- und Goldfäden - ein Markenzeichen der Atair-Familie. Die langen Wellen kämmte er sich streng nach hinten und band sie dann mit einem weißen Band im Nacken zu einem Zopf. Er mochte es nicht, wenn einzelne Strähnen ins Gesicht fielen und an der Nase kitzelten.
Nackt wie er war, schritt er in den angrenzenden Baderaum. Ein Blick in den fast blinden Spiegel brachte ihm die Erinnerung an seine Existenz zurück. Jucon war zeitlos-jung, anmutig-schön und herrlich wie ein gefallener Engel. Der Glanz seiner schimmernden hellen Haut und seine königliche Haltung schlossen auf hohe Würde und Klugheit. Und wahrlich war er beides. Doch gab es niemanden, der dies lobte.
Schmale Hüften, einen festen Bauch, breite Schultern und eine hochgewachsene, schlanke Gestalt zeugten von Mut und Kraft, von der Geschmeidigkeit eines Tieres und vom Selbsterhalt einer verachtungswürdigen Person.
Der Lord blieb am Wasserkrug stehen. Er hob ihn und füllte seinen restlichen Inhalt in die nebenstehende Waschschüssel. Im Laufe des Tages musste er zum Brunnen gehen und den Krug mit frischem Wasser füllen - eine Handlung, die er ungerne tat. Das Wasser war kalt und etwas abgestanden, als er es mit beiden Händen schöpfte und es sich in Gesicht und auf die Brust spritzte. Er schüttelte sich und ging noch nass zurück in sein Schlafgemach.
Die Laken des hohen, breiten Bettes waren grau und schmutzig. Seit vielen Wochen hatte er sie nicht mehr gewechselt. Er tat es auch an diesem Morgen nicht.
Achtlos schritt Jucon durch den Raum, vorbei an den beiden Kleidertruhen, der Kommode, der Anrichte, dem Bett und blieb vor einem Tischchen neben der Tür stehen. Darauf lagen einige Gegenstände, die er an sich nahm. Da war ein Gürtel mit einer kleinen eingearbeiteten Tasche und einem langschneidigen Dolch daran, den legte er sich quer über Brust und Schulter. Und da waren zwei nietenverzierte Unterarmschienen aus schwarzem Hirschleder, auch die zog er sich über.
Draußen vor der Tür, im düsteren schattenreichen Korridor, erwartete ihn der graue Wolf. "Morgen Wolof. Wie geht es dir heute?" Der Lord fuhr durch das struppige Fell des großen Tieres. Wolof hechelte nur zur Begrüßung und geleitete den Lord den langen Gang entlang.
An den Wänden des Korridors, der sich unendlich und vielfach verzweigt durch das Schloss schlang, verblassten die Gemälde der Familienmitglieder, die einst dieses Schloss bewohnt hatten und deren letzter Nachkomme Lord Jucon Alde'Atair war. Es verrotteten die Vorhänge und Gobelins verschmolzen mit dem grau-schwarzen Mauerwerk. Alles zahlte der vergessenden Zeit ihren Tribut.
Diesem ganzen Verfall schenkte Jucon keinen einzigen Lidschlag und er selbst glich einem leuchtenden Stern, als er so in seiner glimmenden Nacktheit daher schritt.
Aufgeregt stolperte Zedyd in das noch recht guterhaltene Haus, in dem seine Räuberkameraden die letzte Nacht verbracht hatten. Durch sein unverständliches aufgeregtes Geplapper brachte er die anderen neun Männer zum abrupten Erwachen.
Mandigo, ihr bulliger Anführer stürzte sich wutentbrannt auf den schmächtigen Zedyd und schüttelte ihn so lange bis er wieder zur Vernunft kam.
Der magere Räuber hatte die letzte Nachtwache abgehalten und berichtete, was ihn mit dem Sonnenaufgang so aus der Fassung gebracht hatte: "Ich sah die Sonne über dem See aufgehen, als ich auf dem bewaldeten Hügel ein mächtiges Schloss sich in den Himmel erhob. Es wirkt unbewohnter, als diese Ruinenstadt hier. Wer weiß, Mandigo, vielleicht finden sich dort noch irgendwelche Schätze?"
Zustimmendes Gemurmel wurde laut.
"Wir werden es uns ansehen", meinte der Räuberhauptmann und schritt aus dem Haus, das weder Dach noch mehr Fenster hatte.
Tukulor, der als letzte die Ruine verließ, griff in einer schattigen Ecke nach einer dort kauernden, zitternden Frau. Sie wimmerte ständig vor sich hin und sah reichlich zerschunden aus. Sie folgten einem Straßenverlauf, der voller Trümmer und Unrat war.
Mandigo war einst Anführer einer großen Räuberbande gewesen, die plündernd und mordend durch Antlia zogen. Sie selbst waren dunkelhaarige Valdivianer mit bronzefarbener Haut. Doch als Antlias Armee sie vor einigen Monaten in einen Hinterhalt locken konnte und die meisten seiner Männer starben, floh Mandigo mit seinen verbliebenen zwanzig Getreuen nach Osten. Selbst auf ihrer Flucht ließen sie das Rauben nicht. Sie überquerten Antlias Grenzen und zogen durch die Provinz Benevenx auf ihrem steten Weg nach Südosten. Irgendwann merkten sie, dass sie nicht mehr verfolgt wurden. Reduziert auf achtzehn Halsabschneider gingen sie im schwachbesiedelten Benevenx auf blutigen Beutezug, bis sie erneut von antlianischen Söldner aufgespürt wurden. So flohen sie weiter und verirrten sich im Grenzwald zu Mantineia - einem wilden, legendenbeladenen Land an der Grenze zur menschlichen Zivilisation. Unterwegs griffen Mandigo und seine verbliebenen sechszehn Männer zwei recht hübsche Bauernmädchen zu ihrer aller Befriedigung auf. Die jüngere starb schon bald an den Strapazen des mühsamen Weges und der täglichen